Es sollte eine Reise in eine bessere Zukunft werden – doch für viele wurde es eine in den Tod: Etwa 120 Menschen saßen in dem Holzkahn, der in der mauretanischen Hafenstadt Nouakchott ablegte. Das Schiff nahm Kurs auf die zu Spanien gehörenden Kanarischen Inseln, die 1100 Kilometer entfernt vor der westafrikanischen Küste im Atlantik liegen. Eine Woche dauert die Überfahrt – wenn alles gut geht. Immer öfter geht es nicht gut.

Manövrierunfähig im Atlantik

Irgendwann, noch weit von ihrem Ziel entfernt, versagte schließlich der Motor und das Boot trieb manövrierunfähig im Atlantik. Die Bootsinsassen sahen in der Ferne Handelsschiffe vorüberfahren. Sie winkten, sie schrien um Hilfe – vergeblich. Erst zehn Tage nach dem Motorausfall wurde die Nussschale von einem Rettungsschiff 200 Kilometer südlich der Kanareninsel El Hierro entdeckt.

Als die spanischen Seenotretter eintrafen, bargen sie 70 Überlebende. Etwa 50 weitere afrikanische Migranten – darunter Kinder – waren während der Odyssee an Hunger, Durst oder Erschöpfung gestorben. Helfer berichteten von erschütternden Szenen: Die Geretteten seien am Ende ihrer Kräfte gewesen. Viele hätten geweint, weil sie auf der Irrfahrt Familienangehörige verloren hatten. Nahezu täglich spielen sich vor den Kanaren solche Tragödien ab. Seit Anfang des Jahres sollen Tausende von Menschen ertrunken sein, schätzt die spanische Hilfsorganisation Caminando Fronteras.

„Die Atlantikroute ist die gefährlichste und tödlichste Richtung Spanien“, betont die angesehene Hilfsvereinigung: Von Jänner bis Mai 2024 seien 4808 Personen umgekommen – so viele wie noch nie. Davon seien 3600 von Mauretanien aus in See gestochen, 959 vom südlich davon liegenden Senegal und 249 von Marokko oder der marokkanisch besetzten Westsahara. Zudem registrierte die Organisation seit Jänner 246 Todesopfer auf der Mittelmeerroute Richtung Spanien.

Die Behörden halten diese Zahlen durchaus für glaubwürdig. Laut Anselmo Pestana, Statthalter der spanischen Regierung auf den Kanaren, gehe man seit vielen Jahren davon aus, dass etwa 20 Prozent der afrikanischen Migranten bei dem Versuch umkommen, Gran Canaria, Teneriffa oder El Hierro zu erreichen. Das Risiko sei noch gewachsen, weil immer mehr Boote seeuntüchtig seien.

Laut dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR sind seit Jahresbeginn mehr als 24.000 Menschen per Boot in Spanien angekommen – ein Anstieg von 140 Prozent gegenüber 2023. Davon wurden mehr als 19.000 Bootsmigranten auf den Kanarischen Inseln registriert. Mit dieser Zunahme ist Spanien auf dem Weg, Italien mit seinem Flüchtlingshotspot Lampedusa abzulösen: In Italien wurden seit heuer schon 23.000 Ankünfte registriert, in Griechenland 18.500.

Von Entspannung keine Spur

Es sieht nicht danach aus, dass die Zahl der auf den Kanaren ankommenden Migranten abnehmen wird. Spaniens Innenministerium schätzt, dass in Mauretanien 300.000 Flüchtlinge aus dem benachbarten Krisenstaat Mali darauf warten, in ein Boot Richtung Europa klettern zu können. „Der Druck besteht weiterhin, weil wir in Mali einen Krieg haben – und wegen der hohen politischen Instabilität in der Region insgesamt“, heißt es.

Im gesamten Jahr 2024 könnten 80.000 Flüchtlinge und Migranten per Boot ankommen, so die interne Schätzung der spanischen Regierung. Und die Hochsaison der Menschenschlepper hat heuer noch nicht einmal begonnen: Von September bis November gibt es üblicherweise weniger Wind und Wellen auf der Atlantikroute, dann könnte sich die Zahl der ankommenden Migrantenboote noch einmal vervielfachen.