Zu Besuch im Pariser Stadtpalast des französischen Regierungschefs soll Marine Le Pen mit Fingerzeig auf das mit vergoldetem Stuck sowie alten Gemälden dekorierte Büro im Hôtel Matignon gescherzt haben: „Jordan, das hier ist für Dich!“
Dass der erst 28-jährige Jordan Bardella das Potenzial hat, der nächste Premierminister Frankreichs zu werden, haben die EU-Wahlen jedenfalls eindrucksvoll bewiesen. Mit Le Pens politischem Ziehsohn an der Spitze kam das Rassemblement National (RN) auf 31,5 Prozent der Stimmen und ließ die Liste von Präsident Emmanuel Macron, die nur knapp 15 Prozent erreichte, weit abgeschlagen hinter sich.
Blitzkarriere bei Rassemblement National
Bardella, zweite Generation italienischer Einwanderer und im Problemvorort Saint-Denis von einer alleinerziehenden Mutter großgezogen, hat beim Rassemblement National eine Blitzkarriere hingelegt: Mit 16 ist er dem Front National beigetreten, wie die Partei damals noch hieß. Mit 20 übernahm er die Leitung der Jugendorganisation „Banlieues Patriotes“ (Patriotische Vorstädte). Damals hat ihn Marine Le Pen entdeckt und unter ihre Fittiche genommen. Mit 22 war er Parteisprecher, mit 23 Parteivize und Listenerster bei den Europawahlen 2019, die er haushoch gewann. Mit 27 wurde er Parteichef.
Als Bardella im November 2022 zum Parteichef gekrönt wurde, hat die scheidende Parteichefin Le Pen ein paar Tränen der Rührung verdrückt. „Applaudiert ihm, er hat es verdient“, rief diejenige in den Saal, die Bardella gern als „meine zweite Mama“ bezeichnet. Zu diesem Zeitpunkt hat Le Pen sicher nicht geahnt, dass der Zögling sie bald überflügeln würde. Nicht nur in Fernsehdebatten schlägt sich Bardella inzwischen besser als die Tochter des Parteigründers. Jüngst hat er sie im Politik-Barometer der beliebtesten Politik-Persönlichkeiten überholt. Die Mehrheit hat eine „gute Meinung“ von ihm.
Laut Bardella schwebt das französische Volk in Lebensgefahr
Bardellas Krönung zum Parteichef war auch eine Richtungswahl. Sein Gegner, Louis Aliot, langjähriger Lebensgefährte von Marine Le Pen, stand für die soziale Linie, Bardella für die identitäre. Wenn er spricht, benutzt er gern das Wort Volk. Nur seine Partei verstehe dessen Probleme und Ängste, nur seine Partei habe so viel Klarsicht gezeigt, die Befürchtungen der Franzosen ernst zu nehmen. Gemeint ist die Angst vor dem „großen Bevölkerungsaustausch“, ein Wort, das Bardella nicht mehr in den Mund nimmt. Aber die Diagnose unterschreibt er, ohne zu zögern: Das französische Volk schwebe „in Lebensgefahr“, es drohe, von Einwandern ersetzt zu werden. Bei einer Fernsehdebatte hat er einmal ein Küchensieb in die Kamera gehalten, als Sinnbild für die EU, die alles durchlasse, „Waffen, Migranten, Terroristen“.
Bardella ist ein seltsames Zwitterwesen, angesiedelt irgendwo zwischen idealem Schwiegersohn und Cyborg: 1,90 groß, der Anzug tadellos, das Haar wie mit dem Lineal frisiert. Sein Studium hat er abgebrochen, aber schlau und schlagfertig ist er. Er wurde so intensiv gecoacht und gestylt, dass böse Zungen behaupten, am Anfang habe er nicht einmal gewusst, wie man „Guten Tag“ sagt. Heute verkörpert er die Zukunft der Partei. Und weil diese seit jeher wie ein florierendes Familienunternehmen geführt wird, hat Bardella „eingeheiratet“: Seit einigen Jahren ist er mit Le Pens Nichte Nolwenn Olivier zusammen, Enkeltochter des alten Le Pen und Tochter von Philippe Olivier, Schwager von Marine, Europaabgeordneter und vor allem Architekt der Strategie der Ent-Diabolisierung.
Ausschluss von Vater Jean-Marie Le Pen
Le Pen hat die Normalisierung der Partei mit dem Ausschluss ihres mehrfach für Antisemitismus verurteilten Vaters und der Umbenennung des Front National begonnen und mit dem historischen Sieg bei den Parlamentswahlen im Juni 2022 zu Ende geführt. Die 88 Abgeordneten des RN tragen Krawatte, die Frauen Kostüm, sie leisten sich keine Entgleisungen wie ihre linkspopulistischen Kollegen und sind bemüht, ihre Regierungsfähigkeit unter Beweis zu stellen.
Der glatte Bardella ist die perfekte Galionsfigur dieser Strategie. Er kann sich an den Antisemitismus von Jean-Marie Le Pen nicht einmal mehr erinnern. Der lange als rechtsextrem verschrienen Partei hat er ein junges, harmloses Gesicht gegeben. Das Wettrennen um die nächste Präsidentschaft wird er sicher noch einmal Le Pen überlassen. Aber sollte sie ein viertes Mal scheitern, wäre er der ideale Kandidat für die Wahl danach. Mit 36 Jahren wäre er dann der jüngste Kandidat aller Zeiten, jünger als Emmanuel Macron bei Amtsantritt.