Rusen Karakaya trägt Trauer: schwarzes T-Shirt, schwarze Jeans und schwarze Schuhe, die Haare hochgesteckt, die Augen gerötet. Um den Hals trägt sie eine Kette mit einem goldenen Schriftzug: Selin – der Name ihrer Tochter, die beim Erdbeben in der Türkei vor einem Jahr getötet wurde. Die Zeit heile gar nichts, erzählt die Hochschullehrerin: „Ich wache immer am selben Tag auf: am 6. Februar. Wenn ich die Augen öffne, ist die Erinnerung da. Ich blicke in das Zimmer meiner Tochter, und es ist leer.“ Ihr Leben sei vorbei, sagt Karakaya. Aber ihr Kampf habe erst begonnen.

Ein Jahr ist es her, dass Rusen Karakaya ihre Tochter zum letzten Mal umarmte. Am 3. Februar 2023 war das, als Selin vor ihrer Schule im türkischen Teil von Zypern in einen Bus zum Flughafen kletterte. Freudige Aufregung herrschte in dem Bus, der voller Kinder war: 24 Volleyball-Spielerinnen und Spieler im Alter von 12 bis 15 Jahren; zudem Lehrer, Trainer und einige Eltern als Aufsicht. Ihr Ziel: die Volleyball-Meisterschaften im südtürkischen Adiyaman.

Das Team kam am frühen Abend in Adiyaman an, wo die Schule ein Hotel gebucht hatte, erzählt Rusen Karakaya im Vereinsheim von Selins Volleyballmannschaft, das mit Trophäen und Bildern der toten Kinder geschmückt ist. „Ich hatte mir das Hotel vorher auf Google angesehen. Da waren Fotos und Bewertungen, das sah alles gut aus. Als Selin sich meldete, habe ich sie nur gefragt, ob das Hotel sauber ist.“ Karakaya schluchzt auf: „Das ist alles, was ich gefragt habe: ob es sauber ist...“

Rusen Karakaya und ihre Tochter Selin
Rusen Karakaya und ihre Tochter Selin © Güsten

Grand Isias Hotel hieß das Hotel. Die Bilder und Bewertungen, die Rusen Karakaya und ihr Mann Enver damals betrachteten, sind heute noch im Internet zu sehen, auch wenn in Wirklichkeit nur noch Schutt dort liegt: ein zehnstöckiger Bau mit verspiegelter Fassade, ein helles Foyer und moderne Bädern. Selin bezog mit ihren drei besten Freundinnen gemeinsam ein Zimmer.

„Alles schrie und weinte“

Mutter und Tochter schickten sich täglich Textnachrichten. „Am 5. Februar habe ich gefragt, willst du per Facetime reden?“, erzählt Karakaya. „Sie antwortete, Mama, ich bin müde und gehe schlafen, wir reden morgen. Ich schrieb gute Nacht, Selin, ich liebe dich.“ Karakaya kommen die Tränen. „Ich habe sie damals nicht mehr gesprochen, das bereue ich so sehr.“

Es war ihr letzter Kontakt zu ihrer Tochter, die eine Woche zuvor 14 Jahre alt geworden war. Um 4.17 Uhr am 6. Februar erschütterte ein gewaltiges Erdbeben der Stärke 7,8 die Südosttürkei rings um Adiyaman. Auf Zypern war es 3.17 Uhr; bis dorthin war das Beben zu spüren. „Ich bin von dem Beben aufgewacht, mein Mann sagte, los, raus, ich griff nach dem Telefon und rief Selin an. Sie hob nicht ab.“ Karakaya und ihr Mann versuchten die Lehrer und Trainer anzurufen, die mitgereisten Eltern, doch nirgends bekamen sie auch nur ein Klingelzeichen.

Die Karakayas streiften sich Jacken über und fuhren zum Flughafen. „Da herrschte Chaos. Immer mehr Eltern kamen an, alles schrie und weinte.“ Es wurde Nachmittag, bis ein Flugzeug mit einer Rettungsmannschaft startklar war. Enver Karakaya und die anderen Väter durften mitfliegen, die Mütter nicht.

Ich habe keine Sekunde gedacht, dass Selin tot sein könnte“, erzählt Karakaya über die folgenden Stunden. „Ich habe nur gebetet, dass sie vorsichtig ist.“ Dann rief ihr Mann an. „Er sagte: Ich bin angekommen – aber hier ist nichts mehr.“ Statt des Hotels fanden Enver Karakaya und die anderen Väter in der Stadtmitte von Adiyaman nur noch einen Schutthaufen. Mit bloßen Händen gruben die Männer an der Einsturzstelle, in der Hoffnung einen Hohlraum zu finden, in dem zumindest ein paar Kinder überlebt hatten.

Es gab keinen Hohlraum. Selin und ihre Freundinnen wurden am 11. Februar ausgegraben, fünf Tage nach dem Beben. „Sie wurden in Särgen heimgebracht“, sagt Rusen Karakaya mit erstickter Stimme. „Und wir haben unsere 14-jährige beerdigt.“

„Sie sind Mörder“

Rasch wurde in Zypern die Frage laut, warum das Hotel Isias beim ersten Erdstoß in sich zusammensackte, während andere Gebäude ringsum stehen blieben. „Es war Mord“, sagt Rusen Karakaya. „Sie haben sich nicht um die Gesetze geschert. Sie haben sich nicht an die Bauvorschriften gehalten. Sie haben die Behörden geschmiert. Alles, um Gewinn zu machen. Sie waren gierig. Sie sind Mörder.“

Sie – damit meint Karakaya den Hotelbesitzer, die Architekten und die Bauaufsichtsbehörden bis hinauf zur türkischen Regierung, die Bausünden gegen Geld mit einer Amnestie legalisierte. Denn das Hotel Isias, so stellte sich heraus, war trotz seiner glitzernden Fassade ein Paradebeispiel für den in der Türkei verbreiteten Pfusch am Bau. 1992 als Wohnblock geplant, blieb das Gebäude jahrelang als Rohbau stehen. Erst ein Jahrzehnt später wurde es fertig gebaut und als Hotel genehmigt, obwohl sich seither die Bauvorschriften geändert hatten. Gutachten zufolge wurde beim Bau minderwertiges Material verwendet. Zuletzt wurde noch ein ungenehmigtes Stockwerk aufgesetzt und bei der Bau-Amnestie 2018 legalisiert.

 Die Gesichter der 26 getöteten Kinder kennt in Nordzypern jeder, sie lächeln als „Team der Engel“ aus den Medien und von Plakaten
 Die Gesichter der 26 getöteten Kinder kennt in Nordzypern jeder, sie lächeln als „Team der Engel“ aus den Medien und von Plakaten © Güsten

„Wir können das nicht als Schicksal hinnehmen und einfach weiterleben“, sagt Karakaya. „Wir werden Gerechtigkeit für unsere Kinder erkämpfen.“ Dafür schlossen sich die Eltern zu einem Verein zusammen, dessen Vorsitzende sie nun ist. Die Anwaltskammer vertritt den Verein pro bono, auch die Regierung hilft. Die Gesichter der 26 getöteten Kinder kennt in Nordzypern jeder, sie lächeln als „Team der Engel“ aus den Medien und von Plakaten, sogar ein Flugzeug der lokalen Fluggesellschaft ist nach ihnen benannt.

Ein kultureller Unterschied ist das zur Türkei. In der türkischen Erdbebenregion habe er beobachtet, dass die Menschen das Beben als Schicksal hinnehmen, berichtet der Anwaltskammervorsitzende Hasan Esendagli in seinem Büro in Nikosia. „Das ist bei uns anders: Die Gesellschaft verfolgt die Ermittlungen genau und erwartet ein Ergebnis.“

Eine Exempel, aber sonst nichts?

Am 3. Jänner wurde in Adiyaman der Prozess gegen den Besitzer des Hotels und zehn weitere Angeklagte eröffnet. Bewusste fahrlässige Tötung lautet der Vorwurf der Staatsanwaltschaft, darauf stehen bis zu zwanzigeinhalb Jahre Haft. Die Angehörigen der getöteten Kinder fordern als Nebenkläger dagegen die Verurteilung wegen vorsätzlicher Tötung und lebenslange Haft.

In der Verhandlung wies der Besitzer alle Schuld von sich. Wenn es kein so starkes Beben gegeben hätte, dann wäre sein Hotel nicht eingestürzt, sagte er. Das Gericht vertagte sich auf den 26. April. Anwaltskammerchef Esendagli sieht die weiteren Aussichten nüchtern. “Wenn wir uns ähnliche Fälle in der türkischen Rechtsprechung ansehen, dann finden wir keine Gerichtsurteile, in denen die verantwortlichen Personen mit abschreckenden Strafen belegt wurden”, sagt Esendagli.

In Adiyaman hat sich der Staub noch nicht gelegt. Ein Jahr nach dem Beben werden noch immer Ruinen abgerissen, zehntausende Menschen hausen in Notunterkünften. In einer Klinik behandelt der Arzt Ismail Tosun die Bewohner der umliegenden Containerlager. Tosun ist Vorsitzender der Ärztekammer von Adiyaman und hat seine Befürchtungen, was den Isias-Prozess angeht. “Tausende weitere Gebäude sind eingestürzt – was ist mit denen?”, fragt er. “Wenn es immer nur um Isias geht, dann wird es leider wieder damit enden: Die Bauherren vom Isias werden verurteilt, alle anderen werden laufen gelassen. Das war schon beim Erdbeben von Izmit 1999 so.“

Isias solle ein Präzedenzfall werden, hofft dagegen Rusen Karakaya. „Mein Leben drehte sich um Selin, für sie habe ich gelebt“, sagt die Mutter. „Nun dreht es sich um diesen Kampf, denn sonst habe ich nichts mehr. Wenn ich Selin im Himmel wiedersehe, dann soll sie auf mich stolz sein. Deshalb muss ich stark bleiben und kämpfen.“

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