Die Flüge in die taiwanesische Luftverteidigungszone, mit denen Chinas Luftwaffe sonst regelmäßig ihre militärischen Muskeln zeigt, haben zuletzt abgenommen. Dafür hat die Volksrepublik vor der Wahl in Taiwan ein anderes Mittel der Einschüchterung gefunden. Seit Anfang Dezember sind neun chinesische Ballons auf taiwanesischem Hoheitsgebiet entdeckt worden, fünf davon flogen unmittelbar über die 23 Millionen Einwohner zählende Insel.

Die Parlaments- und Präsidentenwahlen, bei denen die Taiwanesen am Samstag auch maßgeblich über die künftigen Beziehungen zum mächtigen Nachbarn auf der anderen Seite der Formosa-Straße entscheiden, sind für die Regierung in Peking diesmal noch wichtiger als sonst. Denn nach dem unaufhaltsamen wirtschaftlichen und militärischen Aufstieg der vergangenen Jahre fühlt sich China mittlerweile stark genug, um der Inselrepublik, die es nur als abtrünnige Provinz betrachtet, ihren Willen aufzwingen. Immer wieder hat Chinas Staatschef Xi Jinping zuletzt deutlich gemacht, dass er eine Wiedervereinigung nötigenfalls auch mit militärischen Mitteln durchsetzen will. Die Eingliederung jener Insel, auf die sich die Nationalisten um Tschiang Kai-schek nach der Niederlage gegen die Kommunisten im chinesischen Bürgerkrieg 1949 geflüchtet hatten, wäre dabei nicht bloß die Krönung von Xis politischer Karriere. „Für Chinas Präsident ist das auch ein zentraler Puzzle-Stein für seinen Plan, China bis 2049 zu einer wahrhaft großen Nation und Supermacht zu machen“, sagt Claudia Wessling, Taiwan-Expertin am Mercator Institut für China-Studien, zur Kleinen Zeitung.

USA als Schutzmacht der Eigenständigkeit

Mit Chinas demonstrativer Entschlossenheit, die Taiwan-Frage zu lösen, ist die Gefahr eines Krieges so nahe herangerückt wie schon lange nicht mehr – und ein militärischer Konflikt könnte sich rasch zu einem über die Region hinausgehenden Flächenbrand ausweiten. Denn die Insel, auf der sich sowohl die Bevölkerungsmehrheit als auch der bei den Wahlen favorisierte DPP-Präsidentschaftskandidat Lai Ching-te zumindest für die Beibehaltung des Status quo aussprechen, steht auch im Mittelpunkt des geopolitischen Ringens zwischen den USA und China. Die Vereinigten Staaten, die dem chinesischen Vorherrschaftsstreben auf der globalen Bühne seit der Amtszeit von Präsident Donald Trump zunehmend schärfer entgegentreten, verstehen sich seit jeher als Schutzmacht der Eigenständigkeit Taiwans. Die Regierung in Washington liefert Waffen im Wert von Milliarden Dollar und bildet taiwanesische Armeeangehörige aus.

Angesichts des konstanten chinesischen Säbelrasselns und der weiteren Verschlechterung der Beziehungen ging Trumps Nachfolger Joe Biden allerdings noch einen entscheidenden Schritt weiter. Während bisherige US-Regierungen dem Prinzip der „strategischen Ambiguität“ folgten und bei der Frage, ob die USA Taiwan auch militärisch verteidigen würden, eindeutige Aussagen vermieden, baut der mittlerweile 81-jährige Demokrat auf konkrete Abschreckung. Gleich mehrmals bezeichnete Biden auf Nachfrage die militärische Verteidigung Taiwans als Verpflichtung.

Dass es in der Taiwan-Frage in absehbarer Zeit zu einer Annäherung zwischen der alten und der aufstrebenden Supermacht kommt, scheint auch trotz der jüngsten Entspannungsbemühungen seit dem Treffen von Biden und Xi im Dezember als wenig wahrscheinlich. Bei ihrem mehrstündigen Gespräch in San Francisco vereinbarten die zwei mächtigsten Männer der Welt, sich nach der einjährigen Funkstille wieder regelmäßig auszutauschen und in gewissen Bereichen zu kooperieren, das Thema Taiwan blieb aber vollständig ausgespart. Ebenso unversöhnlich endete wenige Tage vor der Wahl ein Treffen von Militärvertretern aus den USA und China in Washington, in dessen Anschluss die Volksrepublik die USA dazu aufforderte, die Bewaffnung Taiwans einzustellen. „Taiwan ist ohne Zweifel das konfliktbehafteste Thema zwischen den USA und China“, sagt Wessling. „Und das wird auch bis auf Weiteres so bleiben.“

Einnahme militärisch schwierig

Westliche und taiwanesische Experten trauen China derzeit aber noch nicht zu, die Insel militärisch einzunehmen. Anders als die Ukraine oder Israel könne Taiwan nicht so leicht überfallen werden, weil es nicht mit Land verbunden sei, sagt Su Tzu-yun vom taiwanesischen Institut für nationale Verteidigung und Sicherheitsforschung gegenüber der Deutschen Presse Agentur. Die Insel verfüge über viele gegen Kriegsschiffe und Kampfflugzeuge einsetzbare Raketen, was das Meer zu einer fast undurchdringbaren Zone mache und eine amphibische Landung erschwere.

China, das zurzeit auch mit wirtschaftlichen Problemen kämpft, dürfte daher zunächst noch zuwarten. Denn bei einem Angriff zu einem späteren Zeitpunkt hätte die Volksarmee nicht nur die Möglichkeit, ihre heute noch bestehenden Defizite bei Ausrüstung und Ausbildung zu beheben. Auch die geopolitische Großwetterlage wäre möglicherweise eine andere, denn dass der Republikaner Trump nach einem Wahlsieg im November Taiwan im Angriffsfall ebenfalls militärisch verteidigen würde, ist alles andere als gewiss. Eine Atempause bedeutet das aber nicht. So geht Wessling davon aus, dass China seine Muskelspiele insbesondere nach einem Wahlsieg der Peking-kritischen DPP nochmals intensivieren wird.