Es ist ein ungewöhnlich kühler Vormittag in Buenos Aires. Der Frühling zeigt sich in der argentinischen Hauptstadt dieses Jahr selbst Mitte Oktober noch launisch. In Villa Soldati, einem ärmeren Viertel im Südwesten, weht ein schneidend kalter Wind durch die schmalen Gassen. In den weitgehend unverputzten Häusern leben vor allem Tagelöhner, Handwerker, Reinigungskräfte, Hausangestellte. Hier draußen in der Vorstadt ist das glamouröse Buenos Aires mit seinen hippen Innenstadtgegenden eine ganz normale lateinamerikanische Stadt.

Kriminalität steigt an

Die Kriminalität steige, der Drogenhandel sei auf dem Vormarsch, die Jugendlichen hätten immer weniger Perspektiven, klagen die Anwohner. Aber vor allem schlagen den Menschen hier die Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf Gemüt und Geldbeutel. Soldati ist eines der vielen Viertel, in denen sich die sprichwörtliche argentinische Krise manifestiert.

In dicken Pullovern und Winterjacken warten vor dem Gemeindezentrum kurz vor Mittag Frauen, alte Männer und Kinder mit Stofftaschen, in denen große Tupperdosen stecken. Pünktlich um zwölf öffnet sich die bunt bemalte Schiebetür des Gemeindezentrums: „Wer ist der erste“, fragt Köchin Rita Trocha. Schnell reihen sich zwei Dutzend Menschen auf. Heute gibt es eine warme Suppe mit Hühnerfleisch und Spaghetti. „Jeden Tag werden es mehr Menschen, die nach Essen fragen“, sagt Trocha. 200 bis 300 Mahlzeiten geben sie in der „Olla comunitaria“, der Gemeinschaftsküche von Soldati jeden Tag aus.

An dritter Stelle in der Schlange steht Ramona Carrera, eine 52-jährige Hausfrau, die seit drei Monaten hier Essen holt. „Ich habe mich lange geweigert, weil es mir peinlich war, aber vor drei Monaten ging es nicht mehr“, sagt Carrera. Ihr Mann verdient als Maurer pro Tag 9000 Pesos. Das waren im Mai noch 18 Euro. Mitte Oktober sind es noch gerade neun Euro. Die Inflation, die derzeit bei jährlich 140 Prozent liegt, frisst alles weg. Carrera denkt daher nicht darüber nach, wie sie es bis zum Monatsende schaffen kann. „Wir wissen manchmal nicht, wie wir es bis zum Wochenende schaffen sollen“, sagt sie.

Populist als Favorit für Wahlen

Die Menschen in Soldati und im ganzen Land sehen, wie ihnen das Geld wie Sand durch die Finger rinnt, wie die Preise im Monatsrhythmus, manchmal im Wochenrhythmus steigen. Alles wird ständig teurer, die Miete, die Busfahrkarte, der Handyvertrag. Milch, Brot und vor allem das für die Argentinier so wichtige Fleisch hat sich allein im August um 30 Prozent verteuert. Immer wenn der Peso wieder gegenüber dem Dollar an Wert verliert, ziehen die Preise an. Zwar stiegen die Löhne in den vergangenen fünf Jahren in Argentinien um mehr als 400 Prozent, doch mit fast 600 Prozent war die Teuerung in gewisser Weise schneller. In der Folge sind mittlerweile 40 Prozent der 46 Millionen Argentinierinnen und Argentinier offiziell arm. Und wenn es keine Suppenküchen wie in Villa Soldati gäbe, dann wäre das Elend noch viel größer.

Gerade jetzt wird am Sonntag auch noch ein neuer Präsident gewählt. Und vieles deutet darauf hin, dass mit Javier Milei (52) ein absoluter Outsider mit radikalen Ideen und gefährlichen Vorschlägen das Rennen machen könnte. Denn die Menschen haben von den etablierten Parteien genug, die seit Jahrzehnten nichts an der chronischen Abwärtsspirale haben ändern können. Und Milei ist so etwas wie ein Systemsprenger. Ein Politiker, der bis vor kurzem fast unbekannt war, TV-Wirtschaftsexperte, ultrarechter Polemiker, selbsternannter Anarchokapitalist, ein Anhänger von Donald Trump und Jair Bolsonaro. Lange hat er sogar dem Tragen von Waffen und dem Verkauf von Organen und Kindern das Wort geredet. Gerade diese Verrücktheit macht ihn in den Augen von Millionen wählbar. Manche sagen, mit ihm als möglichem Präsidenten springe das Land ins kalte Wasser, andere warnen vor dem Sturz in den Abgrund. Aber was heißt das schon in Argentinien, wo Land und Leute seit Jahrzehnten am Abgrund tanzen.

Sozialhilfen vom Staat

Laut einer Umfrage der Sozialen Beobachtungsstelle der Katholischen Universität Argentiniens (ODSA) aus dem Jahr 2022 erhält mehr als die Hälfte der Bevölkerung mindestens eine Art von Sozialhilfe vom Staat - vom Kindergeld und der Unterstützung für alleinerziehende Mütter bis zum Honorar für Sozialarbeit. Noch vor 70 Jahren gehörte der Agrarstaat Argentinien zu den reichsten Ländern der Welt mit einem Pro-Kopf-Wachstum, so hoch wie das in Westeuropa. Analysten sagen, dass es kein anderes Land auf der Welt gäbe, das sich in einem Jahrhundert von einer der reichsten Volkswirtschaften weltweit zu einem Entwicklungsland zurückentwickelt hat.

Peronisten und Anti-Peronisten, die sich nach dem Ende der Diktatur an der Macht ablösten, hätten Argentinien tief in den Mist gefahren, sagt der bekannte Analyst und Meinungsforscher Sergio Berensztein. „Argentinien begeht 40 Jahre Demokratie, aber die Menschen empfinden nicht, dass dies ihr Leben verbessert habe.“ Berensztein zufolge sind vor allem die jungen Leute wütend und werden deshalb Milei wählen.„Sie werden am Sonntag mit dem Herzen abstimmen und nicht mit kühlem Kopf“, fürchtet der Demoskop.