Tiago Codevilla kennt nichts anderes als Krise. In den 17 Jahren seit seiner Geburt ging es Argentinien wirtschaftlich schlecht. Am Sonntag darf der Gymnasiast zum ersten Mal wählen und wie viele junge Argentinier setzt er große Hoffnungen in den Präsidentschaftskandidaten Javier Milei. In den Umfragen liegt der ultraliberale Abgeordnete vorn, die endgültige Entscheidung fällt aber voraussichtlich in einer Stichwahl.
„Lässt dich nicht mehr los“
„Es lebe die Freiheit“, ruft Tiago bei einer Wahlkundgebung in San Martín im Großraum Buenos Aires. Er steht auf einem Bushäuschen und brüllt Mileis Slogans in ein Megaphon. „Du siehst, wie deine Mutter und dein Vater knapp bei Kasse sind und die Politiker verfluchen, und eines Tages klickst du auf YouTube und fängst an, dem Kerl beim Reden zuzuhören, und das ist etwas, das dich nicht mehr loslässt“, erzählt Tiago, wie er auf Milei aufmerksam wurde.
Der 52-jährige Wirtschaftswissenschaftler mit dem wirren Haar erreicht im Fernsehen und in den Online-Netzwerken mit seinen radikalen Ideen ein großes Publikum. Milei erklärt, er wolle die Zentralbank „in die Luft sprengen“ und den US-Dollar als Währung einführen. Bei seinen Auftritten im Wahlkampf schwingt er eine Kettensäge - martialisches Symbol für die geplanten Kürzungen im öffentlichen Dienst - und signiert falsche 100-Dollar-Scheine mit seinem Konterfei.
Hoffnung auf Aufschwung
Manche Argentinier beunruhigt der Erfolg dieses Populisten, der sich gern mit den Ex-Präsidenten der USA und Brasiliens, Donald Trump und Jair Bolsonaro, vergleicht. Doch für viele verkörpert Milei die Hoffnung auf Aufschwung. Die Lage ist desaströs: 124 Prozent Inflation pro Jahr, 40 Prozent der Menschen leben unter der Armutsgrenze. Dabei war Argentinien früher einmal ein reiches Land.
„Argentinien befindet sich im Niedergang. Wenn wir so weitermachen, werden wir in 50 Jahren das größte Elendsviertel der Welt sein“, sagt Milei, der sich selbst als Anarchokapitalist bezeichnet.
Mehr als 25 Prozent der 35,3 Millionen registrierten Wähler sind unter 30 Jahre alt, schon 16-Jährige dürfen in Argentinien ihre Stimme abgeben. „Mileis Anhänger sind keine jungen Leute vom rechten Rand, sondern junge Menschen, die viel Frustration erlebt haben und für die es schwer ist, eine Perspektive für ihr Leben zu entwickeln“, sagt Shila Vilker, Leiterin der Beratungsfirma TresPuntoZero. „Milei mag ein clowneskes, nicht sehr seriöses Auftreten wie ein Promi haben, aber er spricht ernsthaft zu jungen Menschen.“
Das gefällt auch Tiago an Milei: „Er hält dich nicht für einen Idioten wie alle anderen. Er ist direkt, und er erzählt dir keine Geschichten, auch wenn es weh tut.“ Bei den Jungen „verfängt sein Diskurs über Autonomie, Freiheit, einen gewissen Individualismus und gegen den Staat - erst recht nach der Pandemie“, analysiert Valentin Nabel vom Meinungsforschungsinstitut Opinaia.
In den Umfragen liegt Milei bei etwa 30 Prozent der Stimmen, gefolgt von Wirtschaftsminister Sergio Massa und der ehemaligen Sicherheitsministerin Patricia Bullrich auf Platz drei.
Sammelsurium politischer Überzeugungen
Milei vertritt ein Sammelsurium an politischen Überzeugungen: Er wettert gegen den Sozialismus, lobt Trump, stellt den Klimawandel in Frage, will Organhandel erlauben und kritisiert den argentinischen Papst Franziskus. Er ist gegen Abtreibung und will das Frauenministerium abschaffen.
Noelia González stört sich daran nicht. Die 25-jährige Fachfrau für Datensicherheit verteilt im noblen Vorort Vicente López Flugblätter und verweist darauf, „dass im Milei-Team viele Frauen arbeiten“. „Er verteidigt die Familie und das Privateigentum. Er ist ein Revolutionär“, schwärmt sie von dem Präsidentschaftsbewerber.
Verrückter macht Mut
„Vor vier Monaten war ich kurz davor, nach Spanien auszuwandern, weil ich keinen Ausweg für das Land sah. Ich hatte schon das Visum“, erzählt González. „Doch dann sah ich diesen Verrückten im Fernsehen, der sagt “Geh nicht weg, bleib, setz auf dein Land!‘„ Die junge Argentinierin blieb, machte für ihren Kandidaten Wahlkampf und überzeugte auch ihre Eltern, am Sonntag für Milei zu stimmen.
Javier Tovar/AFP