Im Ukraine-Krieg rückt zunehmend die russisch besetzte Stadt Cherson in den Fokus. Der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak warf den russischen Truppen am Montag vor, Stadtbewohner zunächst gezwungen zu haben, ihre Wohnungen und Häuser zu verlassen. Und jetzt würden sie diese plündern: "Raub an denen, die sie 'beschützen' wollten - die beste Illustration der 'russischen Welt'."
Das ukrainische Militär erklärte zudem, russische Soldaten würden als Zivilisten verkleidet Wohnhäuser besetzen, um sich besser für Straßenkämpfe in Stellung zu bringen. Russische Journalisten wiederum würden die Inszenierung von Videos vorbereiten, mit denen fälschlicherweise belegt werden soll, dass die ukrainische Soldaten Zivilisten Schaden zufügen.
Russland äußert sich nicht
Russland äußerte sich zu den Vorwürfen zunächst nicht. In Cherson würden die ukrainischen Streitkräfte ihre Truppen konzentrieren, sagte zuvor der von Russland eingesetzte Vize-Verwaltungschef Kirill Stremoussow. Die Evakuierung der Region gehe weiter. Vor allem Menschen, die nicht selbst gehen könnten, sollten in Sicherheit gebracht werden. Teils gebe es Stromausfälle. An der Front sei die Lage unverändert, sagte Stremoussow. Die Ukraine hatte immer wieder angekündigt, Stadt und Gebiet Cherson zu befreien.
Cherson liegt im Süden der Ukraine. Es ist die einzige Regionalhauptstadt, die Russland seit Beginn seiner Invasion am 24. Februar erobern konnte. Vor dem Krieg lebten dort etwa 300.000 Menschen. In den vergangenen Tagen ordnete Russland Evakuierungen an, angeblich um die Zivilbevölkerung vor einer bevorstehenden Offensive der Ukraine zur Rückeroberung der Stadt in Sicherheit zu bringen.
Stadt im Dunkeln
In den vergangenen 48 Stunden lag die Stadt nach Angaben beider Kriegsparteien im Dunkeln, nachdem die Strom- und Wasserversorgung für die umliegende Gegend gekappt worden sei. Die von Russland eingesetzte Verwaltung beschuldigte die Ukraine der Sabotage. Ukrainische Behördenvertreter warfen dagegen Russland vor, Stromkabel demontiert zu haben. Elektrizität werde es vermutlich erst wieder geben, wenn das Gebiet wieder unter Kontrolle der Ukraine stehe.
Die Lage in der Stadt konnte zunächst nicht unabhängig überprüft werden. Die Rückeroberung Chersons ist eines der Hauptziele der ukrainischen Gegenoffensive, die im Oktober begann. In den vergangenen Tagen war von ukrainischer Seite zu hören, dass mit einer erbitterten Schlacht zu rechnen sei. Russland hat Tausende Soldaten zur Verstärkung nach Cherson geschickt. In den vergangenen Tagen gab es aber auch Andeutungen, dass sich die russischen Truppen zurückziehen könnten.
Ukraine verhandlungsbereit - mit Putins Nachfolger
Die Ukraine ist nach den Worten von Podoljak zu Verhandlungen mit Russland bereit - aber nur mit dem künftigen Nachfolger von Präsident Wladimir Putin. "Die Ukraine hat sich nie geweigert, zu verhandeln", schrieb er am Montag auf dem Kurznachrichtendienst Twitter. "Unsere Verhandlungsposition ist bekannt und offen." Russland solle zunächst seine Truppen aus der Ukraine abziehen. "Ist Putin bereit? Offensichtlich nicht. Deshalb sind wir konstruktiv in unserer Einschätzung: Wir werden mit dem nächsten Staatschef sprechen."
Russland hat in den vergangenen Wochen mehrere schwere Rückschläge einstecken müssen. Präsident Putin reagierte mit der Einberufung Hunderttausender Reservisten und der Annexion besetzter ukrainischer Landesteile. 50.000 bei der Teilmobilmachung eingezogene Russen seien inzwischen in der Ukraine im Kampfeinsatz, teilte Putin am Montag mit.
Dank westlicher Waffenlieferungen
Die Ukraine verdankt die Erfolge ihrer Gegenwehr nicht zuletzt Waffenlieferungen aus dem Westen. Inzwischen erhielt sie auch eine erste Lieferung der Luftverteidigungssystems NASAMS und Aspide, wie Verteidigungsminister Olexij Resnikow mitteilte. Er dankte Norwegen, Spanien und den USA für die Lieferungen. "Diese Waffen werden die ukrainische Armee erheblich stärken und unseren Himmel sicherer machen."
Ukrainer und Russen hatten sich nach neuem gegenseitigen Beschuss die Zerstörung ziviler Infrastruktur vorgeworfen. Montag früh hätten russische Truppen ein Dorf im Gebiet Saporischschja beschossen, so der Vizechef des Präsidialamtes, Kyrylo Tymoschenko. 16 Objekte ziviler Infrastruktur seien zerstört worden. Ein Mensch sei gestorben. Im Gebiet Sumy hätten die "russischen Terroristen" Grenzregionen beschossen. Dabei seien ein Mensch getötet und ein weiterer verletzt worden.
Auch die Behörden in den von Russland besetzten Gebieten klagten über Beschuss von ukrainischer Seite. In der von russischen Truppen kontrollierten Großstadt Donezk wurde nach Angaben der Behörden die Zentrale der Eisenbahnverwaltung getroffen. In dem schwer beschädigten Gebäude brach ein Brand aus, wie auf von der Stadtverwaltung veröffentlichten Fotos zu sehen war. Es gab keine Informationen zu Verletzten.