Die antiken Philosophen dachten, dass ohne Freundschaft kein gutes Leben möglich sei. Hatten sie recht?
DACIA MARAINI: Die Griechen hatten eine intensive, sakrale Vorstellung von Freundschaft. Sie hielten sie für das edelste aller Gefühle, größer als die Liebe und zugleich doch von einer der körperlichen Liebe sehr nahen Empfindung durchdrungen. Denken wir an Orestes und Pylades, Achilleus und Patroklos. Für die Römer war es dasselbe. Cicero meint sogar, dass Freundschaft nicht mit dem Tod endet. Auch tot bleibt ein Freund ein Freund. Das ist das Höchste, was man über Freundschaft schreiben kann. Bedauerlicherweise galt das nur für Männer. Die Frauen waren von den großen Gefühlen ausgeschlossen. Deshalb habe ich den Roman „Trio“ geschrieben. Ich wollte die Geschichte einer tiefen, nicht lesbischen Freundschaft zwischen zwei Frauen erzählen, die obwohl in denselben Mann verliebt, nicht aufhören, einander zu vertrauen.
Dieselbe Person zu lieben und befreundet zu bleiben, ist das im realen Leben tatsächlich möglich?
Ich glaube fest daran. Wahre Freundschaft nimmt es mit allen Schwierigkeiten auf. Eifersucht ist ein Gefühl, das wir alle kennen. Aber mit Bildung, Erziehung und Reflektiertheit können wir sie zähmen. Tiefe Freundschaft ist imstande, die Grundemotionen zu überwinden und Nobleres zu schaffen.
Was unterscheidet Freundschaft von Liebe?
Freundschaft kennt kein sexuelles Begehren, und wenn ja, wird dieses auf eine höhere Ebene gehoben, sodass man nie Exklusivität, Besitzansprüche, Eifersucht, Ehebruch, Schuldgefühle riskiert. In der Geschichte wurde auf vielfältige Weise über die Liebe nachgedacht. Eine der vornehmsten Auseinandersetzungen finden wir in der provenzalischen Kultur im Mittelalter, die revolutionär war, da Frauen zum ersten Mal als denkende Wesen gesehen wurden, die einer verfeinerten, edelmütigen Liebe würdig sind. Die Harmonie zwischen Mann und Frau wird durch den Verzicht auf Sex erreicht, da dieser nur animalischen Instinkten folge. In Italien war der größte Theoretiker der keuschen, höfischen Liebe Dante. Als Katholik verdammte er zwar den Ehebruch und amouröse Freundschaften. Als Dichter und Pionier einer neuen Kultur, die die großen freizügigen Ideen des Humanismus vorwegnahm, sprach er diese aber zugleich von jeder Schuld frei.
Was ist wahre Freundschaft?
Wahre Freundschaft fordert keine Gegenleistung, keine Treue, keine Zusicherungen, keine Exklusivität. Was Freunde voneinander einfordern können, sind geistige Nähe, Respekt, Aufrichtigkeit und Großzügigkeit. Das alles gewährt einem Freundschaft, während die Liebe, allen voran die körperliche, zu sehr an den Eros gekettet ist, um dem anderen Freiheit zuzugestehen.
Hat die Corona-Pandemie nicht unsere Gewissheiten über die Freundschaft zertrümmert?
Im Gegenteil. In manchen Fällen haben sich Freundschaften sogar vertieft, während die Liebe durch das enge Zusammenleben ihren Zauber verliert. Aber man kann das nicht verallgemeinern. Die Freundschaft, von der ich in „Trio“ spreche, wird durch die Seuche und die räumliche Distanz, die beide Frauen zur schriftlichen Korrespondenz zwingt, noch enger. Manchmal verbinden Briefe mehr als Blicke. Bei der heutigen Geschwindigkeit der Kommunikation ist uns die Tiefe des Denkens verloren gegangen, Gedanken, über die man sich austauscht. Um eine Freundschaft aufrechtzuerhalten, braucht es diese Tiefe und einen langen Atem.
Wie sehr hat das Virus unsere sozialen Beziehungen verändert?
So manches ist anders. Aber nicht alle Änderungen sind eine Verschlechterung. Negativ sind das Abstandhalten, der Argwohn, die Unmöglichkeit, einander die Hand zu geben oder unter Freunden und Bekannten zu umarmen. Positiv ist, dass es ein neues Nachdenken über die Zerbrechlichkeit des Menschen gibt, dass wir wacher gegenüber der Klima- und Umweltproblematik sind und uns und unseren Körper besser wahrnehmen. Vielleicht gewinnen wir auch eine universalere Vorstellung vom Schicksal der Menschen.
Wie wirkt sich Corona auf Ihre eigenen Freundschaften aus?
Meine Freundschaften sind tiefer geworden. Das Schreiben ist mir vertraut, ich liebe es. Daher hatte ich kein Problem, meine Zuneigung in Worte zu fassen. Von ein, zwei Leuten weiß ich durch ihre Briefe jetzt mehr als durch die persönlichen Begegnungen davor. Die für mich größte Überraschung war aber, dass einige Freunde, nicht die engsten, mit dem Bauch zu denken begonnen haben. Ein Musikerfreund, ein gebildeter Mann, erklärte mir, dass die Impfung ein Vorwand sei, um uns einen Überwachungschip zu implantieren. Das ist eine Rückkehr zum Glauben an Hexen und die Teufeleien böser Mächte. Aber welche Mächte, wo und wann? Das Verschwörungsdenken ohne jeden Beweis ist unverständlich, ja gefährlich, weil es alte, irrationale Ängste weckt, von denen wir dachten, dass wir sie vor langer Zeit hinter uns gelassen hätten. Jede Form von unbestimmter Irrationalität führt zu Gewalt und Konflikten.
Sie hoffen, die Menschheit würde nun universaler denken. Aber beweist die Rückkehr der Grenzen nicht genau das Gegenteil?
Es gibt zwei Möglichkeiten, der Pandemie zu begegnen: Die einen leugnen die Realität. Sie wollen Angst vor dem Virus verbreiten und betrachten die Pandemie als Gesundheitsdiktatur der Stärkeren über die Schwächeren. Die anderen, realistischeren, glauben an die Wissenschaft, an die Vernunft und die Begegnung zwischen den Kulturen. Die einen schließen sich im eigenen Land ein und verjagen alle Fremden. Die anderen halten Solidarität und Gastfreundschaft hoch. Die einen werden ihre Ansichten nicht ändern. Die Furcht lässt sie sich immer mehr hinter ihren Mauern verschanzen und macht sie taub gegenüber den Verzweifelten, die vor Krieg, Diktatur und Hunger flüchten. Die anderen suchen nach Wegen, die Pandemie zu besiegen. Sie helfen den Menschen, denen es übel ergeht, und denken in universalen Kategorien, nicht nur militärisch-patriotisch. Für die ersten ist die Pandemie eine Fiktion, um ihre Mitbürger zu unterjochen. Für die anderen ist sie die Gelegenheit, sich von nationalen Egoismen zu befreien und fortschrittlichere Formen von organisierter Solidarität zu schaffen.
Mozart nannte den Tod den besten Freund des Menschen. Hat Corona unsere Vorstellung von der eigenen Sterblichkeit verändert?
Große Krisen führen in der Öffentlichkeit zu einem tiefen Nachdenkprozess. Mit den Wahnideen derer, die die Existenz des Virus leugnen und die Impfung verweigern, will ich mich nicht aufhalten. Die wichtigste Überlegung zielt auf die Zerbrechlichkeit des Menschen ab, sein Ausgesetztsein gegenüber Krankheit und Tod heute wie vor 1000 Jahren. Wir haben die Technologie überschätzt, sie zum Fetisch gemacht, so, als ob sie uns über alles Böse erhaben machen und in eine Zukunft katapultieren könnte, in der wir Herren über Zeit und Raum sein werden. Aber so ist es nicht. Wir entdecken, dass wir verwundbar sind. Ein winziges Virus genügt, um uns in die Krise zu stürzen. Diese Pandemie ist eine kalte Dusche für unsere Allmachtsträume. Der Mensch ist nicht der Herrscher des Universums, sondern entpuppt sich mit jedem neuen Tag als immer zerbrechlicher, abhängiger und von der Auslöschung bedroht. Unabhängig von parteipolitischen, ideologischen und religiösen Überzeugungen sollte uns das zu denken geben.
Welchen Ausweg sehen Sie?
Angesichts dieser existenziellen Bedrohung müssen wir uns alle vereinen. Dringlichste Aufgabe ist der Umweltschutz, die Reparatur unseres schwer verwundeten Ökosystems. Ich will aber keine Untergangsprophetin sein. Ich glaube, wir können unseren wunderschönen Planeten und seine vom Menschen geschaffenen Wunder retten. Wir müssen aber sofort damit beginnen, uns von vielen Gewohnheiten zu verabschieden, von denen wir glaubten, dass sie uns für immer leiten werden.