Von der Leyen war für die Idee eines gemeinsames Lage- und Analysezentrums. Zudem schlug sie eine Mehrwertsteuerbefreiung beim Kauf von Verteidigungsausrüstung vor, die in Europa entwickelt und hergestellt wurde, und kündigte einen Vorschlag für ein neues europäisches Gesetz zur Cyber-Widerstandsfähigkeit an. Grundsatzentscheidungen sollen nach Angaben von der Leyens in der ersten Hälfte des kommenden Jahres bei einem mit Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron organisierten "Gipfel zur Europäischen Verteidigung" getroffen werden. Man müsse entscheiden, wie man die Möglichkeiten des EU-Vertrags im Bereich der Verteidigung nutzen könne, erklärte die Christdemokratin.
Mit Blick auf den bereits diskutierten Aufbau einer neuen EU- Krisenreaktionstruppe mahnte von der Leyen, sich daneben auch um eine grundsätzliche Frage zu kümmern. "Man kann die am weitesten entwickelten Streitkräfte der Welt haben - doch wenn man nie bereit ist, sie einzusetzen, wozu sind sie dann gut?", fragte sie. Was die EU bisher zurückgehalten habe, seien nicht nur fehlende Kapazitäten, sondern auch fehlender politische Wille. "Wenn wir diesen politischen Willen entwickeln, können wir auf EU-Ebene viel tun", sagte sie.
In Sachen wirtschaftlicher Eigenständigkeit kündigte von der Leyen unter anderem an, die Herstellung von Hochleistungschips in Europa zu stärken, um die Abhängigkeit von asiatischen Produzenten zu beseitigen. Dies sei nicht nur eine Frage unserer Wettbewerbsfähigkeit, sondern auch eine Frage der technologischen Souveränität. Vom Smartphone und Elektroroller bis zu Zügen oder ganzen intelligenten Fabriken - "ohne Chips kein digitales Produkt", sagte von der Leyen.
Zusätzliche 100 Millionen Euro für Afghanistan
Für Afghanistan kündigte die EU-Kommissionspräsidentin zusätzliche 100 Millionen Euro zur Unterstützung von Notleidenden an. "Wir müssen alles tun, um die reale Gefahr einer großen Hungersnot und humanitären Katastrophe abzuwenden", erklärte sie. Die 100 Millionen sollen Teil eines neuen Unterstützungspakets sein, das in den nächsten Wochen vorgelegt werde. Zuletzt hatte von der Leyen Ende August bekannt gegeben, dass der Beitrag aus dem EU-Budget für humanitäre Hilfe für Afghanen von rund 50 Millionen Euro auf mehr als 200 Millionen Euro aufgestockt wird. Das Geld steht zusätzlich zu den Beiträgen aus Mitgliedstaaten bereit. Von der Leyen machte zudem deutlich, dass die EU Lehren aus der Machtübernahme der militant-islamistischen Taliban in Afghanistan ziehen muss. Die Gemeinschaft der 27 Staaten war zwar nicht an dem Militäreinsatz zur Unterstützung der vorherigen Regierung in dem Land beteiligt, aber einige Mitgliedstaaten. Die hat außerdem viel Geld in Projekte gesteckt, die eine Rückeroberung der Macht durch die Taliban verhindern sollten.
Das Weiteren kündigte von der Leyen an, die EU werde ihren Beitrag zum globalen Naturschutz verdoppeln. So solle der Niedergang der Biodiversität bekämpft werden. Empfänger der Hilfen seien die schwächsten Länder der Erde, sagte die deutsche Politikerin. Für die Jahre bis 2027 nannte sie eine Summe von zusätzlich vier Milliarden Euro.
Von der Leyen will ferner ein EU-weites Verbot für Produkte aus Zwangsarbeit durchsetzen. Weltweite Geschäfte zu machen sei gut, ebenso wie ein globaler Handel gut und notwendig sei. Aber dies dürfe nicht auf Kosten der Würde und der Freiheit der Menschen geschehen. Heutzutage gebe es etwa 25 Millionen Menschen, die von Zwangsarbeit bedroht oder dazu verdammt seien. "Menschenrechte sind nicht käuflich - für kein Geld der Welt", sagte die 62-Jährige.
200 Millionen weitere Corona-Impfdosen für ärmere Länder
Die Europäische Union will 200 Millionen weitere Corona-Impfdosen für ärmere Länder spenden, wie von der Leyen ebenfalls ankündigte. Sie sprach von einer "Investition in die Solidarität und einer Investition in die weltweite Gesundheit". Damit verdoppelt die EU ihre Spendenzusagen nahezu auf nun insgesamt 450 Millionen Impfdosen. Von der Leyen nannte den Kampf gegen die Corona-Pandemie "eine der großen geopolitischen Fragen unserer Zeit". Sie betonte, bisher seien "weniger als ein Prozent der Dosen weltweit in Ländern mit niedrigem Einkommen verabreicht worden". Die Kommissionspräsidentin verwies auch darauf, dass die EU eine Milliarde Euro investiert, um die Produktion von Impfstoffen in Afrika zu fördern.
Von der Leyen würdigte die Bewältigung der Corona-Pandemie in der EU als Erfolg - zugleich rief sie zu weiteren Anstrengungen auf. Mit mehr als 70 Prozent vollständig Geimpften unter der erwachsenen Bevölkerung sei die EU allen Kritikern zum Trotz unter den weltweit führenden, sagte von der Leyen. "Wir haben es richtig gemacht, weil wir es auf die europäische Weise gemacht haben." Die "Corona-Zeiten seien aber "nicht vorbei. Eine Pandemie ist ein Marathon, kein Sprint." Um sicherzustellen, dass ein Virus künftig nicht mehr zur Pandemie werde, schlug von der Leyen vor, in den kommenden sechs Jahren 50 Milliarden Euro in die Gesundheitsvorsorge der gesamten EU zu investieren.
Hoffnungen setzt von der Leyen in den Corona-Wiederaufbaufonds. "Mit NextGenerationEU investieren wir jetzt sowohl in die kurzfristige Erholung als auch in langfristigen Wohlstand", so die EU-Kommissionspräsidentin. Dabei würden strukturelle Probleme der Volkswirtschaften wie etwa die Steuerreformen in Österreich angegangen werden.
Die EU-Kommission will außerdem ein neues Austauschprogramm für junge Menschen auflegen, die weder Ausbildung noch Job gefunden haben. "(Das Programm) ALMA wird diesen jungen Leuten die Möglichkeit eröffnen, zeitlich befristet Berufserfahrung in einem anderen Mitgliedstaat zu sammeln", sagte von der Leyen. Diese Jugendlichen verdienten eine Erfahrung, wie Studenten sie im Rahmen des Erasmus-Austauschprogramms machen könnten. Darüber hinaus kündigte von der Leyen in ihrer Rede zur Lage der Europäischen Union an, 2022 ein Jahr der europäischen Jugend auszurufen. Damit sollten die jungen Leute wertgeschätzt werden, die während der Corona-Pandemie vieles zum Schutz anderer geopfert hätten.
Aus dem EU-Parlament kam ein geteiltes Echo auf von der Leyens Rede. Der Fraktionsvorsitzende der Europäischen Volkspartei (EVP), Manfred Weber (Deutschland), lobte die EU-Kommission für ihren Einsatz gegen die Corona-Pandemie. Kein anderer Kontinent habe so hohe Impfquoten wie die EU.
Die spanische Sozialdemokratin Iratxe García Pérez (Spanien) zeigte sich erfreut über die Ankündigung von der Leyens, ein Gesetz gegen Gewalt an Frauen vorzulegen. "Seit Jahren verlangen wir dieses Gesetz", sagte sie. Außenpolitisch müsse die EU endlich mit einer Stimme sprechen, das zeigten die Entwicklungen in Afghanistan. Zu mehr Tempo beim Klimaschutz mahnte der Grünen-Fraktionschef Philippe Lamberts (Belgien) . "Wenn wir scheitern, gibt es keine Wirtschaft mehr, weil der Planet nicht mehr bewohnbar sein wird", sagte er.
Unter den österreichischen Parlamentarier-Reaktionen fielen jene der ÖVP positiv, jene von SPÖ, Grünen und NEOS kritisch aus.