Wir haben es geschafft, Joe! Du wirst der nächste Präsident der Vereinigten Staaten sein.“ Der achtsekündige Clip des Anrufs von Kamala Harris bei Joe Biden wurde bei Twitter 45 Millionen Mal angeklickt. Er zeigt die unbändige Freude der 56-Jährigen vor sechs Tagen, als sie beim Joggen vom Wahlsieg erfuhr und damit von ihrer historischen Rolle, die sie ab 20. Jänner einnehmen wird. Harris wird Vizepräsidentin der USA und damit die erste Frau und Nicht-Weiße in diesem Amt.
Welches Kalkül Bidens hinter der Auswahl seiner Stellvertreterin stand, lässt sich schnell zusammenfassen. In weniger als einem Vierteljahrhundert werden die Weißen in den USA in der Minderheit sein. Der 77-Jährige signalisiert mit der Aufstellung von Harris als „Running Mate“, dass er als „weißer alter Mann“ die Zeichen einer wachsenden Gemeinschaft von Latinos, asiatischen und Afroamerikanern – und vor allem die Zurufe der weiblichen Bevölkerungshälfte – verstanden hat. Die Kalifornierin repräsentiert als Tochter eines gebürtigen Jamaikaners und ersten schwarzen Professors an der Eliteuniversität Stanford sowie einer indischstämmigen Brustkrebsspezialistin den Wandel der amerikanischen Gesellschaft.
Doch die besondere Rolle der bisherigen Senatorin ergibt sich nicht nur aus ihrer Herkunft und ihrem Geschlecht. Biden, der am kommenden Freitag seinen 78. Geburtstag feiert, wird bei der Inauguration der älteste Präsident der US-Geschichte sein. Schon deshalb ruht auf ihrer politischen Ausrichtung ein starkes Augenmerk. Üblicherweise steht der Vizepräsident im Schatten des Potus, wie der Präsident in den USA abgekürzt wird. Schon seit dem Wahltag scheint es, als kehre sich das erstmals um. Denn sollte Biden seine Amtszeit nicht überleben, würde die 56-Jährige zur ersten Präsidentin der USA. Weil der Ex-Vize von Präsident Barack Obama eher nicht zu einer zweiten Amtszeit antreten wird, dürfte Harris damit auch für eine eigene Kandidatur 2024 in Stellung gebracht werden.
Allerdings kommt Harris schon im aktuellen Prozess eine wichtige Rolle zu. Im US-Senat werden die Republikaner aller Voraussicht nach eine hauchdünne Mehrheit haben. Sollten die beiden noch ausstehenden Sitze bei der Nachwahl in Georgia am 5. Jänner von den Demokraten gewonnen werden, gäbe es ein Patt mit den Republikanern. Bei Stimmengleichheit entscheidet die Vizepräsidentin als sogenannte Tiebreakerin über den Ausgang der Abstimmung.
Selbst wenn die Republikaner ihre Sitze behalten, könnte es in der Corona-Pandemie schnell durch Krankheitsfälle auf Harris’ Stimme ankommen. Und der Senat wird schon bei der Regierungsernennung und dann bei allen Großprojekten von Biden mitentscheiden.
Deshalb interessiert sich die Öffentlichkeit brennend dafür, wofür die Juristin inhaltlich steht. Im Vorwahlkampf ihrer Partei war dies nicht immer klar auszumachen. Ihr politisches Profil ist allerdings als Generalstaatsanwältin (womit in Kalifornien gleichzeitig auch Justizministerin gemeint ist) und Senatorin sichtbar geworden. Ihre berühmtesten Auftritte hatte sie bei der Befragung des ehemaligen Justizministers Jeff Sessions 2017 im Senat zu seinen Beziehungen zu Russland sowie bei der Anhörung von Brett Kavanaugh, als dieser 2018 von Präsident Donald Trump als Richter am Obersten Gerichtshof nominiert wurde. Seine Ernennung wurde wegen des Vorwurfs sexueller Übergriffe vom Rechtsausschuss des Senats überprüft. Harris zeichnete sich damals für ihre Schlagfertigkeit aus, Medien sprachen davon, sie habe Trumps Bewerber „gegrillt“, es aber verstanden, mit „respektvoller Aufsässigkeit“ den Kandidaten aus der Reserve zu locken. Auch den Facebook-Chef Mark Zuckerberg trieb sie im Ausschuss mit ihrer Art in die Enge.
Sie sei geprägt vom Kampfgeist ihrer Mutter, die in der Bürgerrechtsbewegung an der Universität Berkeley aktiv war, schrieb sie in ihrer Biografie „The Truths We Hold“ von 2020. Die Forscherin habe ihren Töchtern beigebracht: „Sitzt nicht nur herum und beschwert euch. Tut etwas!“ Harris sieht darin einen ihrer mächtigsten Antriebe: „Meine Mutter formte uns zu starken Frauen.“
Diesem Kampf widmete sie in ihrer ersten Rede als designierte Vizepräsidenten eine nonverbale Botschaft. Ihr weißer Anzug sei ein Zeichen für „alle Frauen, die sich über ein Jahrhundert lang für die Sicherung und den Schutz des Wahlrechts eingesetzt haben: vor 100 Jahren mit dem 19. Zusatzartikel, vor 55 Jahren mit dem Wahlrechtsgesetz und jetzt mit einer neuen Generation von Frauen in unserem Land, die ihre Stimme abgegeben und den Kampf für ihr Grundrecht, zu wählen und gehört zu werden, fortgesetzt haben“, sagte Harris.
Weiß gilt als Zeichen weiblicher Solidarität und des politischen Widerstands. Es ist das Symbol der Suffragetten-Bewegung, die Anfang des 20. Jahrhunderts in weißer Kleidung für das Frauenwahlrecht protestierte. Auch Hillary Clinton trug 2016 einen weißen Hosenanzug, als sie zur ersten weiblichen Präsidentschaftskandidatin berufen wurde.
Ebenso prägend war die Ausgrenzungserfahrung als dunkelhäutiges Mädchen im Kalifornien der 1970er-Jahre. Sie sei Antrieb gewesen, immer die Erste zu sein, betont Harris. So wurde sie jung erste Generalstaatsanwältin von Kalifornien. Seither weiß man um ihren Kampf gegen Todesstrafe und Hassverbrechen gegen LGBTQ-Minderjährige – und gleichzeitig um ihre harte Linie gegen Straftäter. Innerhalb der Demokraten galt sie zunächst als Kompromisskandidatin, weil sie progressiver als Biden im Senat agierte, ohne aber dem progressiven Flügel der Partei anzugehören. Angetrieben durch die „Black Lives Matter“-Bewegung gewann Harris auch in den eigenen Reihen jenen Zuspruch, den ihr die demokratischen Anhänger bei den Vorwahlen noch verwehrt hatten.
Entscheidend wird sein, wie vermittelnd sie im Senat auftreten kann. Das war Bidens Stärke unter Obama. Die vielen Jahre im Senat machten ihn zum Meister des politischen Deals. Harris dürfte sich dort als weitaus schwierigerer Gegner für die Republikaner erweisen.
Ingo Hasewend