Dieser 12. November soll für die deutschsprachige Konkursmasse des zerbrochenen Habsburgerreiches so etwas wie ein Geburtstag werden. In dem von Theophil Hansen entworfenen neoklassizistischen Gebäude für den kaiserlichen Reichsrat an der Ringstraße in Wien tagt die Provisorische Nationalversammlung des sich noch selbstständig nennenden deutschösterreichischen Staates, dem 210 Abgeordnete angehören. Es sind ausschließlich Männer, die nun die Weichen stellen. Das Wetter weigert sich, zur Feierlichkeit etwas beizutragen, es regnet. Trotzdem drängen laut Chronisten 150.000 Menschen zum Parlamentsgebäude. Es ist zwar Dienstag, aber der Tag wurde für arbeitsfrei erklärt.
Gegen 16 Uhr proklamiert Franz Dinghofer, amtierender Präsident der Nationalversammlung, von der Rampe des Parlaments aus die Republik Deutschösterreich. Freilich nicht als eigenständigen Staat, sondern als Teil der Deutschen Republik, der man sich anschließen will. Einstimmig hat das die Nationalversammlung beschlossen, wie der Präsident verkündete, denn kaum jemand in diesem geschrumpften Österreich glaubt an die Überlebensfähigkeit als eigenständiger Kleinstaat. Die zwei Gegenstimmen bei der Abstimmung soll Dinghofer ignoriert haben.
Am Anfang steht Gewalt. Rote Garden unter dem Kommando des ehemaligen Oberleutnants und zum Kommunisten gewandelten Egon Erwin Kisch, bekannt als rasender Reporter und Enthüller des Spionageskandals um den Oberst Redl, versuchen, das Parlament zu stürmen. Zwei Tote und 50 Verletzte hinterlassen die Scharmützel.
Am Anfang steht die Sehnsucht des Anschlusses. Der Präsident dieser Provisorischen Nationalversammlung Franz Dinghofer symbolisiert den 1918 beginnenden Untergang der erst jungen Republik, deren Elend.
Die Totengräber des Landes halten die Schaufeln schon in der Hand. Dinghofer studiert Rechtswissenschaften in Graz, gehört der Burschenschaft „Ostmark Graz“ an. 1907, im Alter von 34 Jahren, wird er Bürgermeister von Linz, er bleibt es bis 1918. Ein mustergültiger Bürgermeister, der Wohnungen bauen lässt, der während des Krieges geschickt die Ernährung der Bevölkerung organisiert. Der Oberösterreicher und Begründer des Deutschen Volksbundes ist einer der Wortführer der Deutschnationalen, die, wie auch andere Parteien, das Heil im Schoß des großen Deutschland sehen. Dinghofer gehört 1920 zu den Gründern der Großdeutschen Volkspartei als Sammelbecken einschlägiger deutschtümelnder Gruppierungen, deren Obmann er auch wird und die sich mit ihrem Parteiprogramm rassistisch und hetzend antisemitisch positioniert.
Die Christlichsozialen regieren zeitweise mit den Großdeutschen als Koalitionspartner, Dinghofer wird Vizekanzler, Minister im Kanzleramt, Justizminister, bis er 1928 von der Politik an die Spitze des Obersten Gerichtshofes wechselt. Die von ihm mitbegründete Großdeutsche Volkspartei, nicht mehr an der Regierung beteiligt, verbündet sich 1933 mit der Nazi-Partei zu einer Kampfgemeinschaft.
Dinghofer, der 1924 unverblümt den Anschluss Österreichs an Deutschland als unvermeidlich bezeichnet, erlebt im März 1938 diese Vereinigung mit dem nationalsozialistischen Deutschland. Für den einstigen Gründer der österreichischen Großdeutschen Volkspartei gibt es in Adolf Hitlers Reich keine politische Rolle mehr. Als Präsident des Obersten Gerichtshofes wird er pensioniert, angeblich zwangsweise, doch andererseits: Dinghofer ist 65, der Oberste Gerichtshof in Wien wird aufgelöst, braucht daher auch keinen Präsidenten, die Agenden gehen auf das Reichsgericht in Leipzig über.
Und dieser Dinghofer erlebt das Wüten und das Ende des Großdeutschen Reiches, die Gräuel des Antisemitismus, mit dem seine seinerzeitige Partei Österreich vergiftet hatte. Dieser Dinghofer erlebt, wie Österreich 1955 mit Unterzeichnung des Staatsvertrages und dem Abzug der Besatzungsmächte zu einem freien Land wird, das sich nicht mehr als kleiner Bruder Deutschlands versteht.
Der Mann, der 1918 die Republik Deutschösterreich ausrief, dessen Name nicht zu den glänzenden unserer Geschichte zählt, starb 1956. Er steht für den Spannungsbogen der österreichischen republikanischen Geschichte von 1918 bis 1938, er steht für Rassenwahn und Untergang.