Leo Josefus geht an seine Grenze. Der österreichische Polizist erläutert eindrücklich, wie in der Hochphase der Flüchtlingskrise vor zwei Jahren tausende Menschen auf dem schlammigen Boden bei kalten Temperaturen tagelang stecken blieben, bevor sie ihren Weg Richtung Deutschland fortsetzen konnten. Die hygienischen Bedingungen seien unbeschreiblich gewesen, sagt der Grenzbeamte und versucht es doch. Er nennt es „Chaosphase“. Aber nun sei man ja gerüstet, auch wenn man nicht genau wisse, wofür. Die Grenzanlage in Spielfeld wirkt wie ein Monument einer vergangenen Epoche. Grüne Halme erobern die asphaltierte Fläche zurück. Eine österreichische Flagge weht einsam im Wind. Das Tor im Zaun zu Slowenien ist geschlossen. Josefus' Besuchergruppe drängelt sich durch leere Gittergänge in einer Zelthalle. Die Kojen der Polizei sind verweist. Alles wirkt so frisch, als wäre hier gerade eine Putzkolonne durchmarschiert. Dabei kommt nur kein einziger Flüchtling mehr in der Steiermark an, weil bei Errichtung des „Grenzmanagements“ vor zwölf Monaten die Balkanroute schon ein halbes Jahr dicht war.

Die Leere erzeugt auch ohne Flüchtlinge Wirkung. Nur ein Rentner aus der Umgebung schimpft beim Rundgang gelegentlich über weggeworfene volle Wasserflaschen. „Undankbares...“ - weiter kommt er gar nicht, weil Josefus gleich österreichisch beschwichtigend einhakt. Bevor der konservative Spitzenkandidat Sebastian Kurz gleich an diesem Ort, der einst die Gemüter so erregt hat, sein politisches Konzept für die Zukunft erläutern wird, sind einige seiner Anhänger auf diese Führung hinter die Kulissen der praktischen Politik der Vergangenheit mitgekommen. Es ist eine Politik, die viel mit dem jungen Außenminister zu tun hat und mit seinem kometenhaften Aufstieg.

Dann rollt der türkisfarbene Bus mit seinem wahlkämpfenden Kanzlerkandidaten in den Grenzbereich. Als Kurz aus dem Bus steigt, stehen örtliche Honoratioren Spalier. Fast alle haben sich aufgebrezelt und tragen Tracht, er erscheint in seinem eng geschnittenen Anzug ohne Krawatte. Kurz steht davor mit 31 Jahren jüngster Kanzler der Republik Österreich zu werden, wenn am Sonntag bei der Wahl eines neuen Parlaments nichts mehr schiefläuft. Aber davon geht ohnehin keiner im Alpenland aus. Schon gar nicht seine Anhänger. Auf der Bühne erklärt er einmal mehr, wie er „gegen den Widerstand auf europäischer Ebene, in der eigenen Bundesregierung und sogar in der eigenen Partei, die Balkanschließung durchgebracht“ habe. „Viele die mich kritisiert haben, haben sich später bedankt.“ Seine Anhänger klatschen erlöst. Selbst jene Älteren in der Volkspartei, die noch skeptisch den neuen Kurs beäugen, halten sich vornehm zurück. Mit Kurz kam der Erfolg zurück.

Zuerst Lob, nun verstärkt auch Kritik

Inzwischen haben zwei Bücher die genauen Abläufe des Krisenmanagements in Berlin und Wien rekonstruiert und Kurz steigt dabei nicht gerade günstig aus. Aber das interessiert in Österreich nicht sonderlich viele. Der Grundtenor in weiten Teilen lautet: Da ist endlich einer, der die Sorgen ernst genommen hat und der nicht von der rechtspopulistischen Freiheitlichen Partei ist. Kurz hat das geschafft, was Horst Seehofer mit seiner CSU bisher erfolglos versucht. Er hat den angestaubten Konservatismus sexy gemacht. Er hat aus der alten Volkspartei eine neue Bewegung „Liste Kurz“ gemacht, die Farbe vom traditionellen Schwarz in ein jugendlich frisches Türkis umlackiert und sie mit politisch unverbrauchten Unterstützern aufgemöbelt. Mit Inhalten über das Migrationsthema hinaus hält er sich noch immer weitgehend bedeckt, aber das nimmt man ihm ab. Vor seiner Zeit als Außenminister war er Integrationsstaatssekretär und bekam für seine Arbeit in diesem politischen Minenfeld sogar Lob von sozialdemokratischer Seite und vielen Menschen mit Migrationshintergrund. Das war einmal. Eine junge Politikstudentin, die für einige Fragen auf die Bühne geholt wird, konfrontiert ihn an diesem Abend mit dem derzeit oft gehörten Vorwurf, er verknüpfe inzwischen alle Themen mit der Migrationsfrage. „Ja“, sagt Kurz ungerührt und liefert die Begründung gleich mit: „Es ist ein Thema, das in viele Bereiche hineinspielt. Ich spreche viel darüber, weil ich es für relevant halte.“ Migration sei neben der Digitalisierung das wichtigste Thema der Zukunft.

Heinz-Christian Strache sieht das im Prinzip genauso. Der Chef der rechtspopulistischen FPÖ hat mehr als ein Jahrzehnt von diesem Thema gelebt. Und irgendwie findet er das auch klasse. Sein Gesicht kenne jeder, sagt er in Anspielung darauf, dass in allen anderen Parteien die Chefs in den vergangenen eineinhalb Jahren ausgetauscht wurden. Deshalb betont er auch bei jeder Gelegenheit, dass er der einzige Politiker sei, dessen Name auf keinem Wahlsujet erscheint. Doch das ist gleichzeitig ein Problem. Ein Teil seiner Arbeit im Parlament als Oppositionsführer bestand darin, auf die „Altparteien“ zu schimpfen in der Tradition seines ideologischen Vordenkers Jörg Haider. Nun ist Strache mit zwölf Jahren Parteivorsitz und seinem vierten Wahlkampf als Spitzenkandidat der Blauen selbst so etwas wie der Altvater der Parteienlandschaft. Sein allergrößtes Problem ist das freilich nicht. Seit Kurz ihm beim Herzensthema die Lufthoheit genommen hat, verliert die FPÖ gegenüber der ÖVP zunehmend an Boden. Während der Flüchtlingskrise im Herbst 2015 war Strache schon gefühlter Kanzler, doch Herbstmeister ist eben kein echter Titel.

Vom Spielfeldrand aus

Aber da gibt es noch etwas, was Strache derzeit in die glückliche Lage versetzt, entspannt am Spielfeldrand zu sitzen. Denn die Politik in Wien versinkt in der schmutzigsten Schlammschlacht der jüngeren Wahlkampfgeschichte. Dreh- und Angelpunkt ist der israelische Politikberater Tal Silberstein. Es geht es um Intrigen zwischen den beiden Großkoalitionäre SPÖ und ÖVP. Es geht um Bespitzelung, Falschnachrichten und handfeste Lügen, um Nichtwissen oder Dochwissen des sozialdemokratischen Kanzlers Christian Kern über schmierige Vorgänge von Mitarbeitern, geheimen Informanten und Maulwürfen. Immerhin: Er hat den Berater für eine halbe Million Euro in sein Wahlkampfteam geholt hat. Im August war Silberstein in Israel im Zusammenhang mit Korruptions- und Geldwäschevorwürfen festgenommen und als SPÖ-Denker von Kern entlassen worden. Es geht seit Wochen nicht mehr um Asyl-, Steuer- oder Familienpolitik, die Medien ergehen sich in der Frage, ob und wer wem was gegeben hat, damit er den Ruf des anderen schädigt. „Dirty Campaigning“ könnte zum Unwort des Jahres werden. Strache genießt und schweigt. Die Defensive ist eine ungewöhnliche Spielposition für den notorischen Angreifer.

Bei diesem Rosenkrieg in der Großen Koalition ist es unvorstellbar, dass sich beide Seiten nach der Wahl noch einmal an einen Tisch setzen. Dabei ist die Große Koalition ein österreichischer Dauerzustand, sieht man einmal von den Jahren 2000 bis 2006 mit einer schwarz-blauen Regierung ab, die bis heute Gerichte und Untersuchungsausschüsse beschäftigt und dem Land das Trauma von EU-Sanktionen bescherte. Nun dachte man schon bei der Bundespräsidentenwahl 2016, Österreich spiele wieder in der politischen Operettenliga. Doch Stichwahlwiederholung wegen defekter Wahlbriefkleber und Rüpeleien im Spaltungswahlkampf zwischen einem Grünen und einem Rechtspopulisten wirken angesichts der aktuellen Schmutzkampagne harmlos. Alle im politischen Betrieb gehen nur noch von Schwarz-Blau aus.

Es ist so etwas wie Endzeitstimmung ausgebrochen bei den Sozialdemokraten. Eine Bündnis abseits der Freiheitlichen kommt für ÖVP-Chef Kurz nur noch ohne den SPÖ-Vorsitzenden Kern in Frage. Da der Außenminister mit weitem Abstand als Sieger ins Ziel gehen dürfte, und Kerns Partei sogar um Platz zwei zittert, muss die SPÖ nach elf Jahren das Kanzleramt am Wiener Ballhausplatz sicher räumen. Namenswitze sind in diesem Wahlkampf übrigens billige Massenware, so auch der Wiener Schmäh, dass das Kanzleramt entkernt wird. Dabei wurde dort unter Vorgänger Werner Faymann die Öffnung der Grenzen zu Ungarn mit Kanzlerin Angela Merkel in Berlin beschlossen. Faymann konnte anders als Merkel von der humanitären Geste überhaupt nicht profitieren. Er ist längst Geschichte genauso wie die Massenflucht über den Westbalkan. Doch der neue SPÖ-Chef Kern konnte das kollektive Aufatmen in seiner Partei und im Land nach dem Abgang von Faymann nicht lange nutzen. Zwar gilt der ehemalige Chef der Österreichischen Bundesbahnen als Machertyp, doch gegen den jugendlichen Außenminister, der schon kurz nach Kerns Antritt in dessen Rückspiegel erschien, wirkt der Kanzler fast altbacken.

Meister der Selbstinszenierung

Eines immerhin verbindet die beiden neben ihrer Arbeit in der Bundesregierung. Kern und Kurz sind Meister der Selbstinszenierung, achten penibel auf Kamerapositionen ihrer hauseigenen Fotografen. Die Bilder müssen ihre Geschichte erzählen und werden von hiesigen Medien oft gern und kritiklos übernommen. Er sei „eine Prinzessin und ungemein eitel“, steht in einem internen Papier über den SPÖ-Chef, das in diesen Tagen den Weg in die Öffentlichkeit fand. Auch Kurz pflegt noch immer auffallend sein Image mit den kindlichen Gesichtszügen und dem ewig gewinnenden Lächeln. Immerhin braust er nicht mehr durch Wien in einem „Geil-o-Mobil“, wie in seinem ersten Wahlkampf als 24-jähriger Jurastudent, weil Politik „ja auch Spaß machen“ soll. Heute mag er über die Episode am liebsten nicht mehr reden. Verfolgen tut sie ihn dennoch.

Aber von der Schönheit bleibt wenig übrig, wenn man sich gemeinsam im Schlamm wühlt. „Ich habe 15 Monate mit Ihnen zusammengearbeitet und die Obstruktion von Ihnen erlebt“, bellt Kern seinem ÖVP-Kontrahenten im letzen Kanzler-Duell entgegen. „Wir produzieren nicht Schlagzeilen, sondern können auf eine Erfolgsbilanz verweisen“, legt Kern nach und verweist auf die sinkende Zahl der Flüchtlinge über das Mittelmeer. „Vieles ist beschlossen worden, weil ich und andere Druck gemacht habe“, kontert Kurz. Beide sind schon fast im Wutmodus. „Ihr Einfluss war in Europa doch gar nicht zu spüren“, fügt der Kanzler hämisch an. „Sie haben in der Migrationsfrage so oft ihre Meinung geändert, dass sie doch selbst nicht mehr wissen“, schlägt Kurz nach. Kern zieht erbost die Stirnfalten hoch. Das TV-Duell zwischen Angela Merkel und Martin Schulz erinnert in diesem Moment an ein fröhliches Briefmarkentauschen auf dem Schulhof.

Kleinparteien übertönt

In diesem Lautrauschen der drei Großparteien verschwinden selbst die wichtigsten Kleinparteien im Klangnebel. Seit sich die Grünen nach dem Ausbooten ihres Langzeitabgeordneten und Chef-Aufdeckers Peter Pilz in zwei Teile aufgespalten haben und beide verbliebenen Hälften knapp oberhalb der Vierprozenthürde um den Einzug in den Nationalrat zittern, könnte es auch für die liberalen Neos nur knapp reichen. Alle anderen Parteien spielten ohnehin noch nie eine Rolle oder keine Rolle mehr wie das Team Stronach des milliardenschweren austrokanadischen Unternehmers Frank Stronach. Über mangelnde Präsenz können sich Grünen-Chefin Ulrike Lunacek, Neos-Chef Matthias Strolz und Pilz, der sein eigener Chef ist, nicht beklagen. Öffentlich-rechtliche und private Fernsehsender liefern sich seit Wochen einen TV-Duell-Marathon. Mehr als 40 Aufeinandertreffen in allen denkbaren Variationen wird es bis zum Sonntag gegeben haben. Der Wahlkampf ist vom Marktplatz auf die Mattscheibe umgezogen. Einige ausländische Beobachter in Wien haben das schon verwundert „Käfighaltung der Kandidaten“ genannt. Mitunter erlebt man bei der Flut auf rund einem halben Dutzend TV-Kanälen anhaltende Dejà-vu-Momente. Ob das zu mehr Übersicht oder noch mehr Politikverdrossenheit führt, darüber sind sich die heimischen Politikwissenschaftler noch unschlüssig. Nur so viel ist klar: Der österreichische Wahlkampf ist wieder mal bis an die Grenze gegangen.