Die Liste der chinesischen Orte, in denen Volk und Regierung einander nicht mehr trauen, ist wieder um einen Namen länger geworden: Longnan. In der 2,7-Millionen-Einwohner-Kreisstadt in der nordchinesischen Provinz Gansu randalierten am Montag rund 2000 Menschen gegen die lokale Verwaltung. Ausgelöst von rund 20 Bewohnern, die sich am Morgen vor dem Rathaus lauthals über die Enteignung ihres Landes beschwert hatten, bildete sich innerhalb kürzester Zeit ein Mob von Unzufriedenen, die zwei Bürogebäude stürmten und plünderten, Autos und Motorräder anzündeten, Beamte verprügelten und sich mit Steinen, Eisenstangen und Äxten Straßenschlachten mit der Polizei lieferten. "Mehr als 60 Beamte, Polizisten und Bürger wurden verletzt", berichtete Longnans Regierung auf ihrer Internetseite. Die Sicherheitskräfte hätten "keine andere Option gehabt, als die Anführer der randalierenden Kriminellen mit Gewalt auseinander zu treiben."

Außer Kontrolle. Der Fall kann gut als Beispiel dafür gelten, wie Chinas soziale Spannungen außer Kontrolle zu geraten drohen. Denn Proteste gegen Enteignung, Kaderkriminalität, Arbeitsplatzverlust oder soziale Ungleichheit sind in der Volksrepublik alltäglich geworden, und da viele Demonstranten das Gefühl haben, nichts mehr verlieren zu können, wachsen sich viele Kundgebungen zu Krawallen aus. Glaubt man den offiziellen Statistiken der Akademie für Sozialwissenschaften, kommt es in China täglich zu rund 170 "Störungen der öffentlichen Ordnung", wie es im Regierungsjargon heißt. In Wirklichkeit dürfte die Zahl weitaus höher sein.

Ins Internet. Anfang November reagierten im südchinesischen Shenzhen mehrere tausend Menschen mit Randalen auf den Tod eines Motorradfahrers. Diesem hatte ein Beamter an einer Straßensperre in voller Fahrt sein Funkgerät an den Kopf geworfen, weil er nicht anhalten wollte. Die Nachricht verbreitete sich im Internet wie ein Lauffeuer und fiel auf fruchtbaren Boden, weil viele Shenzhener sich von der Polizei schikaniert fühlen. Um den öffentlichen Unmut zu besänftigen, zahlte die Regierung der Familie schnell eine Kompensation von 200.000 Yuan (23.000 Euro), was 15 städtischen Durchschnittsjahreseinkommen entspricht.

Die falschen werden bestraft. Zwar erkennt die Pekinger Regierung durchaus, dass den Protesten gewaltige soziale Probleme und häufig Korruptionsfälle zugrunde liegen. Doch aus Angst um die eigene Autorität werden häufiger die Demonstranten bestraft als diejenigen, die ihren Unmut provoziert haben. Diese Prioritäten der Regierung schlagen sich auch in einer neuen Direktive an die staatlichen Medien nieder. Da sich Nachrichten in Chatforen oft schneller verbreiten, als die Zensoren sie löschen könnten, soll künftig auch die offizielle Presse schnell über "Massenvorfälle" berichten - allerdings ohne auf die zugrunde liegenden Ursachen einzugehen.