Herr Vizekanzler, wie lange sollen die Bürger diese Koalition denn noch ertragen müssen?
WILHELM MOLTERER: Gewählt wird im Oktober 2010. Es ist richtig, das erste Jahr war von den Ergebnissen her zwar absolut in Ordnung, von der Performance her aber absolut verbesserungswürdig.

Auf den unteren Ebenen fliegen die Fetzen wie im Wahlkampf. Warum muss das so sein?
MOLTERER: Muss es überhaupt nicht. Meine Schmerzgrenze liegt dort, wo es ins Persönliche geht, denn diese Regierung wird von respektablen Persönlichkeiten gebildet. Da hat es Überschreitungen gegeben. Ich hoffe, dass sich das ändert, dafür werden ich und mein Team auch unseren Beitrag leisten.

Unter welchen Voraussetzungen würden Sie ernsthaft über ein Mehrheitswahlrecht reden?
MOLTERER: Wenn es dafür eine Perspektive mit breitem Konsens unter allen Parteien gibt, dann ja, sonst nicht.

Ist die Große Koalition als Konstellation nicht eine demokratiepolitische Anomalie?
MOLTERER: Nicht zwingend. Es stellt sich aber heraus, dass die große Koalition eben nicht die Lösung aller Probleme ist. Sie hat den Vorteil der Verfassungsmehrheit. Den Nachweis der Efizienz haben in den letzten Jahren auch kleine Koalitionen geliefert.

Beim Asylgerichtshof gibt es heftige Einsprüche respektabler Leute. Im Schulbereich bleiben viele Neuerungen aus. Der Finanzausgleich ist keine Grundlage für eine Staatsreform. Wo sind die Erfolge?
MOLTERER: Mit dem Finanzausgleich gilt die Ausrede der Gebietskörperschaften nicht mehr, man kenne die finanzielle Basis für die Reformen nicht. Beim Asylgericht hieß die Priorität Beschleunigung der Verfahren. Dazu stehe ich. Zur Bildung: Was stimmt, die ÖVP ist kein Partner für eine verpflichtende Gesamtschule in ganz Österreich.

Wieso gibt es dann Modellversuche?
MOLTERER: Für mich ist die Wahlfreiheit entscheidend, ein Zusatzangebot ist völlig in Ordnung.

Österreichs Schulsystem ist kaum sozial durchlässig. Die Gesamtschule könnte das ändern.
MOLTERER: Studien aus Deutschland zeigen, diese These stimmt nicht. Richtig ist, dass wir in Städten eine alarmierende Abwertung der Hauptschulen erlebt haben. Dort haben Schüler tatsächlich Barrieren, überwiegend mit Migrationshintergrund verbunden. Wir müssen zwischen den Schulformen die Durchlässigkeit verbessern und vor allem die Lehre massiv aufwerten. Wir müssen erreichen, dass ein Meister, also ein Facharbeiter, in den Möglichkeiten einem Maturanten gleichgestellt ist. Da geht es tatsächlich um Chancengleichheit. Ein Meister nach der Lehr und ein Master nach der Uni sind für mich gleich wertvoll!

Wahlfreiheit hängt mit flächendeckender Verfügbarkeit zusammen?
MOLTERER: Flächendeckende Gesamtschule heißt Ende der Hauptschule und Ende der Unterstufe Gymnasium. Wer nach der Pflichtschule in die Arbeitswelt einsteigt, hätte in seiner gesamten Schulzeit gar keine Wahlfreiheit mehr.