Herr Klubobmann, die Regierung ist seit einem Jahr im Amt. Sie wollen lieber über Europa reden. Warum?
WOLFGANG SCHÜSSEL: Europa ist ein zentrales Thema für uns Österreicher. 2007 war ein magisches Datum mit dem Wegfall der Grenzbalken. Österreich ist von der Peripherie ins Herz Europas gerückt. Der Donauraum ist wahrscheinlich die wirtschaftlich spannendste Region Europas in den nächsten 15 Jahren. Das müssen wir als Chance begreifen, nicht als Angstszenario.

Die Menschen sehen die Entwicklung mit Vorbehalt.
SCHÜSSEL: Die Österreicher sind in der Geschichte nicht immer verwöhnt worden. Eine gesunde Portion Skepsis tut gut. Die Österreicher sind nicht überschäumend. In Summe wird aber die EU als Chance begriffen.

Warum hat dann nicht die Politik den Mut, das Volk über den EU-Vertrag zu befragen?
SCHÜSSEL: Das ist nicht eine Frage des Muts. Wir leben in einer repräsentativen Demokratie. Direkt gewählte Volksvertreter entscheiden über die Pensionsreform, Steuergesetze, das Bildungssystem und auch über internationale Verträge. Das war bei allen EU-Verträgen auch schon so. Eine Volksabstimmung halte ich nur für sinnvoll, wenn sie europaweit stattfindet.

Bei der Türkei soll sehr wohl das Volk befragt werden. Das passt nicht zusammen.
SCHÜSSEL: Doch. 2004 waren wir noch die Einzigen, die für eine Alternative zur Vollmitgliedschaft der Türkei eingetreten sind. Heute sind Sarkozy oder Merkel auf unserer Linie. Die Türkei wird nicht Vollmitglied der EU werden. Am Ende des Tages steht eine andere Vertragslösung.

Sie fühlen sich pudelwohl im EU-Geflecht. Bereiten Sie sich auf einen neuen Job in Brüssel vor?
SCHÜSSEL: Nein. Mir geht es darum, dass man Europa aktiv mitgestaltet. Das ist für ein Land von der Größe Österreichs von entscheidender Bedeutung. Wir dürfen Europa nicht einfach passieren lassen. Sonst machen das die anderen bei uns, und das gefällt mir gar nicht.

Die EU hat einen Weisenrat eingesetzt, eine EU-Zukunftswerkstätte. Wäre das nichts für Sie?
SCHÜSSEL: Keine Ahnung. Das Projekt ist auf Sommer verschoben worden. Die Idee stammt von Sarkozy, und es soll nachgedacht werden, wie Europa in 20 oder 30 Jahren aussehen soll. Besser wäre es, wenn die Regierungschefs alle zwei Monate zu informellen Gesprächen zusammentreffen und dort ohne feste Tagesordnung Grundsatzdebatten führen.

Wie soll Europa in 30 Jahren aussehen?
SCHÜSSEL: Das Allerwichtigste ist, den Zusammenhalt nach innen zu stärken. Europa ist eine wunderbare Erzählung, ein Traum. Bisher ist der Traum immer nur durch Gewalt verwirklicht worden. Denken Sie an die Römer, Karl den Großen, Napoleon. Die Versuche sind gescheitert, weil sie nie von der Begeisterung der Menschen getragen waren. Europa muss immer neu erklärt werden.

Hierzulande tut das die Politik viel zu wenig.
SCHÜSSEL: Es gibt schon Politiker, die das machen, auch Landeshauptleute. Aber es stimmt, dass vielen Menschen die Zusammenhänge nicht bewusst sind. Nehmen Sie nur den burgenländischen Weinbau oder den steirischen Wein. Das ist eine unglaubliche Erfolgsgeschichte, weitgehend von der EU mitfinanziert.

Haider hofft, mit EU-Ressentiments Wahlen zu gewinnen.
SCHÜSSEL: Es gibt keinen einzigen Politiker in Europa, der mit einer expliziten Anti-EU-Linie auf nationaler Ebene Regierungschef geworden ist. Die Leute wissen genau, was vernünftig ist. Die Wähler haben eine unerschöpfliche Weisheit und eine unbezwingbare Waffe: den Stimmzettel.

Apropos unerschöpfliche Weisheit. Die Wähler haben also am 1. Oktober 2006 richtig entschieden?
SCHÜSSEL: Absolut, auch wenn es schmerzt. Das ist für diese Zeit eine Tatsachen-Entscheidung, die gar nicht in Frage gestellt werden kann. Man muss das Beste daraus machen. Jede Niederlage enthält in Wahrheit schon Elemente des Künftigen in sich.

Des künftigen Sieges?
SCHÜSSEL: Oder auch nicht. Man hat das selber in der Hand.