Bleibt's stehen, ihr seid in Österreich!", rief Johann Göltl vor 20 Jahren den Menschen zu, die an ihm vorbeistürmten; bei sich nur das Nötigste, die Anspannung im Gesicht. Sie waren in Österreich. 601 Bürger der DDR sind über die Grenze bei St. Margarethen im Burgenland in die Freiheit geflohen. Es war die erste Massenflucht von Ostdeutschen; ein wesentlicher Schritt zum geeinten Europa, der im Ende des Eisernen Vorhanges und der Öffnung der Berliner Mauer seine Fortsetzung fand.

Johann Göltl, damals Chefzollinspektor, hatte an jenem 19. August 1989 keine Zeit, darüber nachzudenken, dass er gerade Geschichte mitschrieb. Das "Paneuropäische Picknick" sollte an diesem Tag stattfinden, eine Friedensveranstaltung. Ein Tor in der Grenze sollte symbolisch für drei Stunden geöffnet werden. Göltl sollte die Österreicher abfertigen, die dafür nach Ungarn reisen wollten.

"Sie haben Freiheit! Freiheit! gerufen"

"Kurz vor 15 Uhr machten die Ungarn und wir den Balken und eine Torhälfte auf", sagt Göltl. "Alles war ruhig." Er ahnte nichts. "Auf einmal ist ein Sturm von Leuten auf uns zugerannt gekommen. Sie haben Freiheit! Freiheit! gerufen", erzählt der heute 68-Jährige.

Die Menschen sind um ihr Leben gerannt, denn zu dieser Zeit gab es auf ungarischer Seite noch den Schießbefehl an der Grenze. "Hätten die Ungarn geschossen, es wäre das Chaos ausgebrochen", sagt Göltl.
Der leitende Grenzoffizier bei den Ungarn, Arpad Bella, spielte eine wichtige Rolle. Da er keine eindeutigen Anweisungen hatte, forderte er seine Leute auf, die illegalen Grenzgänger ziehen zu lassen. Doch Chaos gab es auch so. Göltl hatte gerade Verstärkung aus St. Margarethen angefordert, als schon die nächste Gruppe angerannt kam. Und wenige Minuten später noch eine. "Die Kinder sind aus den Kinderwägen gefallen", erzählt er.

"Die Jungen haben geschrien und gejubelt"

Als die Leute den Österreicher hörten, fiel die Anspannung von ihnen ab. "Die Älteren und die Kleinkinder haben geweint, die Jungen haben geschrien und gejubelt und einander umarmt", sagt er. Die meisten reisten gleich in die Bundesrepublik weiter. Die 601 Ostdeutschen waren ein großes Risiko eingegangen. Alles hätte anders ausgehen können.

Im Sommer 1989 war vieles im Umbruch. Nur wenige Wochen davor, am 27. Juni, hatte Österreichs Außenminister Alois Mock mit seinem ungarischen Amtskollegen Gyula Horn symbolisch ein Stück Stacheldraht durchschnitten.
Zehntausende DDR-Bürger reisten bis Mitte August als Touristen nach Ungarn ein und wollten nicht mehr zurück. In dieser Stimmung organisierten das oppositionelle ungarische Demokratische Forum und die Paneuropa-Union unter Schirmherrschaft von Otto von Habsburg und dem ungarischen Reformer Imre Pozsgay das Picknick. Und die symbolische Grenzöffnung.

Im Chaos getrennt

Für Tausende DDR-Bürger war es mehr als nur Symbolik. Jene, die es schafften, waren nur ein Teil von Tausenden, die hinter der Grenze auf ihre Chance warteten. Doch es war zu spät. Die Ungarn machten die Grenze zunächst wieder dicht.
Und dann war da diese Frau. Ihr achtjähriger Sohn war im Chaos auf der anderen Seite der Grenze geblieben. Die Familie war getrennt. "Sie hat mich angefleht, dass wir ihn rüberholen. Aber das war nicht mehr möglich", erzählt Göltl. Also sagte sie: "Dann gehen mein Mann und ich wieder zurück."

Göltl fasste sich ein Herz: "Ich habe die Ungarn abgelenkt, mein Kollege hat den Buben rüber geholt." Die Mutter war froh, die Ungarn sauer. "Ich habe ihnen gesagt, einer mehr oder weniger ist jetzt ja auch schon egal", erzählt Göltl. Der Zollchef von Sopron hat sich zwei Wochen später bei ihm dafür entschuldigt.

Er wird den Tag nicht vergessen

Und heute? "Ich habe alles noch vor mir", sagt Göltl. Er wird den Tag nicht vergessen. Ebenso wenig wie jene Tage in den Jahren davor, an denen er Menschen sterben hat sehen - erschossen, als sie die Grenze überqueren wollten. Historiker glauben, dass die ungarische Regierung mit den Ereignissen am 19. August 1989 testen wollte, wie die Warschauer Paktländer reagieren.

Heute steht an der Stelle bei St. Margarethen ein Denkmal; eine sich öffnende Tür. Göltl und sein ungarischer Kollege Bella sind gute Freunde geworden. "Als ich den Buben geholt habe, hat er Angst gehabt", erzählt Göltl. "Wenn der Kommunismus nicht fällt, bin ich weg", hat er gesagt. Es ist anders gekommen.