Herr Wu'er, am 4. Juni 1989 endeten die Studentendemonstrationen in einem Blutbad. Wenn man sich vor Augen hält, wie sehr sich China seitdem verändert hat, könnte einem der zeitliche Abstand noch viel größer vorkommen. Ist es Zeit, das Thema den Historikern zu überlassen?
WU'ER: Dass wir uns hier in Taipei gegenübersitzen und nicht in Peking sagt doch bereits alles: Ich und andere Studentenführer können noch immer nicht in unsere Heimat zurück. Meine Eltern dürfen auch nicht ausreisen und mussten auf ihre alten Tage mit dem Computer umzugehen lernen, um ihren Sohn und ihre Enkelkinder wenigstens per Webcam sehen zu können. Wie kann man mit dem Thema abschließen, solange die Kommunistische Partei die Beteiligten und ihre Familien weiter bestraft?

Betroffene wie ihre Eltern gehören heute in der Volksrepublik zu den wenigen, die überhaupt wissen, was im Frühjahr 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens passiert ist. Die meisten Chinesen haben von dem sogenannten Tiananmen-Zwischenfall noch nie gehört.
WU'ER: Chinas Regierung war schon immer sehr gut darin, die Menschen dumm zu halten, vor allem die Landbevölkerung. Aber irgendwann wird sie sich den Problemen, auf die wir vor zwanzig Jahren aufmerksam gemacht haben, wohl stellen müssen. Denn obwohl sich China seitdem wirtschaftlich sehr schnell entwickelt hat, herrscht noch immer ein autoritäres Regime, in dem die Menschen kein politisches Mitspracherecht haben.

Aber ist denn eine Demokratie nach westlichem Muster für ein Milliardenvolk wie das chinesische die richtige Antwort?
WU'ER: Natürlich ist Demokratie kein Allheilmittel für alle Probleme. Aber ob sie funktioniert, hat nichts mit der Größe eines Landes zu tun. Es geht ja nicht nur darum, einen Präsidenten zu wählen, sondern um Dorfbürgermeister, Stadtteilparlamente und so weiter. Es ist auch Unsinn zu sagen, Demokratie passe nicht in die chinesische Kultur. Sehen Sie sich Taiwan an: Das ist eine äußerst traditionelle chinesische Gesellschaft und gleichzeitig eine gute Demokratie. In gewisser Weise sind wir Chinesen vielleicht sogar noch demokratietauglicher als westliche Gesellschaften. Schließlich ist in der chinesischen Kultur die Gemeinschaft viel wichtiger als das Individuum, wodurch die Menschen ein größeres Verantwortungsgefühl haben. Bei Wahlen in Taiwan liegt die Beteiligung immer bei 80 Prozent - davon kann man im Westen nur träumen. Als ich in den USA Politik studiert habe, bekam ich noch beigebracht, solche Quoten könnten nur durch Wahlbetrug entstehen, aber in Taiwan ist das alles echt.

In der Volksrepublik scheinen sich die meisten Menschen aber überhaupt nicht für Politik zu interessieren. Sie wirken zufrieden, solange es wirtschaftlich vorangeht und sich ihr Lebensstandard verbessert.
WU'ER: Nach 1989 hat die Regierung mit dem Volk eine Art Tauschhandel gemacht: Die Partei gibt den Menschen wirtschaftliche Freiheit und verlangt dafür politische Unterordnung. Das ist natürlich ein ziemlich lausiges Geschäft, aber obwohl es bisher irgendwie funktioniert, sind politische Reformen letztlich unausweichlich. Sobald die Menschen einen gewissen Wohlstand erreicht haben, durchschauen sie auch, wie die Gesellschaft funktioniert und wollen mitbestimmen.

War die Studentenbewegung also ihrer Zeit voraus?
WU'ER: Keineswegs. Unsere Forderungen waren ja nicht einmal besonders radikal. Wir wollten weder die Kommunistische Partei stürzen noch ein Mehrparteiensystem einführen, sondern einfach nur in einen Dialog. Ehrlich gesagt wussten wir damals nicht einmal sehr viel über Demokratie. Wir waren schließlich alle in China aufgewachsen, hatten nur sehr begrenzte Nachrichten über den Rest der Welt und keinerlei Möglichkeit, ins Ausland zu reisen. Aber selbst wenn wir von Demokratie wenig verstanden - von Nicht-Demokratie verstanden wir umso mehr.

Worüber waren sie denn unzufrieden? China befand sich damals immerhin schon seit zehn Jahren auf dem Weg der Marktwirtschafts- und Öffnungspolitik. Konnte man da nicht das Gefühl haben, das Land entwickle sich in die richtige Richtung?
WU'ER: Für uns Studenten war das eine sehr deprimierende Zeit. Wir hatten keine Ahnung, wo unser Leben einmal hingehen würde. Damals konnte man sich in China nicht einmal seinen eigenen Job aussuchen, sondern bekam eine Stelle zugewiesen. Über unsere Zukunft entschieden andere. Und wir hatten ja nicht einmal Partys, Alkohol und Drogen, mit denen wir uns hätten ablenken können. Um elf Uhr ging auf dem ganzen Campus der Strom aus und alle mussten in ihre Wohnheime. Dann saßen wir im Dunkeln in unseren Achtbettzimmern zusammen und haben uns natürlich die Köpfe heiß geredet. Im Nachhinein hat die Regierung diese Sperrstunde bestimmt bereut.

Wo werden Sie dieses Jahr den 4. Juni verbringen?
WU'ER: Wahrscheinlich in Washington. Dort werden sich einige der im Exil lebenden Studenten von damals treffen und daran zu erinnern, dass die Tragödie von Tiananmen noch nicht der Vergangenheit angehört.