Noch kein halbes Jahr ist Ivo Josipovic im Amt. Aber kaum eine Woche ist seither vergangen, ohne dass Kroatiens neuer Präsident nicht eine sorgfältig zugemauerte Tür eingetreten hätte. Zweimal schon war er in Bosnien. In Zagreb traf er sich mit seinem serbischen Amtskollegen Boris Tadic. In einem ehemals serbischen Dorf in Kroatien besuchte er heimgekehrte serbische Flüchtlinge und stärkte ihnen den Rücken gegen die Schikanen der kroatischen Bürokratie: Es sei "unannehmbar", hörten die erfreuten Bauern aus Präsidentenmund, dass man sie so lange auf die Rückgabe ihres Eigentums habe warten lassen.

"In den letzten Monaten ist wirklich etwas passiert", sagt anerkennend ein führender westlicher Diplomat. Gemeint sind nicht nur die Initiativen von Josipovic. Als Durchbruch werten EU-Vertreter die Verurteilung des Massakers von Srebrenica durch das Belgrader Parlament. Nicht überall in Ex-Jugoslawien wird die Versöhnungswelle aber als Erlösung empfunden: Mühsam fixierte Gewissheiten werden aufgeschnürt, vertraute Feindbilder geraten ins Wanken.

"Böswilligkeit, Unwissen, Arroganz und Wahnsinn", hatte Josipovic im April in Sarajewo gesagt, hätten in den Neunzigerjahren glauben gemacht, "die Lösung für Bosnien sei die Teilung" - und fügte deutlich an: "Ich bedaure zutiefst, dass Kroatien mit seiner Politik dazu beigetragen hat, dass Menschen umkamen und Trennungen sich auftaten, an denen wir noch heute laborieren." Kaum waren die Worte verklungen, fiel Premierministerin Jadranka Kosor ihrem Staatschef ins Wort: Kroatien habe nie einen Angriffskrieg geführt.

Die reflexhafte Abwehr zeigt, wie dünn die Basis ist, auf der das offizielle Kroatien seine Unschuldslegende aufbaut. Tatsächlich haben reguläre kroatische Truppen in Bosnien gegen die Regierungsarmee gekämpft. Erst auf Druck der USA musste der damalige bosnische Präsident die Anwesenheit der fremden Truppen nachträglich gutheißen. Besonders heikel, wenn die Rede auf den "Vaterländischen Krieg" gegen die Jugoslawische Volksarmee kommt. Die Republik habe von 1991 bis 1995 einen "gerechtfertigten und legitimen, defensiven Befreiungskrieg" gegen eine "großserbische Aggression" geführt, hat schon vor zehn Jahren das Zagreber Parlament mit großer Mehrheit erklärt. Von der Vertreibung von etwa 200.000 Serben innerhalb weniger Tage findet sich in der Erklärung so wenig wie ein Wort über die Provokationen kroatischer Extremisten, die den Angriffen der Jugo-Armee vorausgingen.

Versöhnung braucht Praxis

Das Wort Versöhnung allein irritiert niemanden; es ging schon den Kriegsherren der Neunzigerjahre glatt von den Lippen. Schon 1995, kurz vor der großen Vertreibung der Serben, verglich Kroatiens Präsident Franjo Tudjman das künftige Verhältnis zwischen beiden Völkern mit der deutsch-französischen Freundschaft. Gemeint war: Wenn "klare Verhältnisse" herrschen und Grenzen uns trennen, werden wir uns vertragen. Diese Auffassung von Versöhnung vertritt noch immer der bosnisch-serbische Premier Milorad Dodik, mit dem Josipovic sich im Mai in Banja Luka traf. "Man muss die Geschichte auslöschen", sagte Dodik diese Woche.

Dass individuelle Kriegsverbrechen verfolgt werden, Minderheiten unbehelligt bleiben und Regierungen unparteiisch agieren sollen, ist wenigstens auf der Ebene der Erklärungen schon lange Konsens. Josipovics Initiativen gehen aber darüber hinaus, sagt der Völkerrechtler Joseph Marko, einst Verfassungsrichter in Bosnien. Zwar gebe es keine Kollektivschuld, trotzdem müssten Regierungen das Erbe ihrer Vorgänger annehmen, wenn es zu echter Versöhnung kommen solle - etwa durch "Gesten von Führungsfiguren" wie dem Kniefall Willy Brandts vor den Opfern des Warschauer Gettos.

Marko hält auch nichts von der Idee der Präsidenten Josipovic und Tadic, dass Kroatien und Serbien ihre Klagen gegeneinander vor dem Internationalen Gerichtshof zurückziehen. "Ein Urteil verteilt wenigstens Licht und Schatten", sagt der Völkerrechtler. Nach einem internationalen Spruch können Geschädigte auf Schadenersatz klagen. Ein Urteil stelle sicher, dass sich nicht zwei Staaten zulasten Dritter einigen.

Gemeinsame Geschichte

Versuche gemeinsamer Geschichtsschreibung stehen aber noch am Anfang - jede Seite sieht sich noch immer als Opfer der je anderen. 2002 brachte eine übernationale Autorengruppe immerhin ein vierbändiges Werk über die Geschichte des Balkans bis 1945 heraus. Aber in Ostslawonien, wo Kroaten und Serben auch heute zusammenleben, werden historisch heikle Fragen im Schulunterricht sorgsam umschifft. "Wahrheitskommissionen" wie in Südafrika sind gescheitert oder nicht zustande gekommen. Nicht nur aus schlechten Gründen: Er fürchte sich vor "großen Wahrheiten", hat etwa der serbische Völkerrechtler Vojin Dimitrijevic gesagt: "Es geht nicht darum, wer recht und unrecht hatte, sondern darum, wer sich als Mensch benommen hat und wer nicht."