Zwei Minuten vor fünf Uhr und Heidi Mohammed ist bereit. Die Zwölfjährige hat die Schuluniform ausgezogen. Sie trägt jetzt T-Shirt und Jeans. In den Händen hält sie eine Geige. Ihre ernsten dunklen Augen starren auf eine Uhr. Sobald der Zeiger auf fünf Uhr springt, wird sie mit ihren Übungen beginnen. Dann wird dem Haus ihrer Familie für drei Stunden Strom zugeschaltet und Heidi kann Licht anmachen und ihre Noten lesen.

Bagdad im Frühjahr 2010. Sieben Jahre nach dem Sturz Saddam Husseins ist das Leben in der irakischen Hauptstadt noch immer eine Herausforderung. Strom ist eine Kostbarkeit. Auch die Wasser- und Abwasserversorgung ist vielerorts mangelhaft. Die Stadt gleicht noch immer einer Festung, mit Schießtürmen und Sicherheitskontrollen. Bei einigen wächst eine nostalgische Sehnsucht nach der Zeit von Saddam Hussein. Bei anderen der Wunsch nach einem Aufbruch. Ein neues Lebensgefühl scheint zu erwachen. Am Sonntag wird im Irak ein neues Parlament gewählt. Wer wählen geht, hat die vage Hoffnung, dass irgendwann einmal, inschalla (so Gott will), alles gut wird.

Heidi Mohammed kann sich nicht an die Zeit Saddams erinnern. Als der Diktator gestürzt wurde, war sie fünf Jahre alt. Aber ihre Eltern halten mit ihrer Meinung kaum zurück. Saddam-Fans waren sie nie, dafür hat der Vater als Kurde und überzeugter Kommunist zu viele Schikanen erdulden müssen. Wenn er heute die Lebenslage seiner Familie sieht, ist er traurig. Wehmütig erzählt er seinen drei Kindern von den Tagen in Bagdad, als noch Strom und Wasser flossen und die öffentlichen Dienste funktionierten. Als Strom noch nicht rationiert wurde.

Stromplan der Politiker

Heidi kann damit leben. Solange zumindest, bis sie auf das Flachdach des Hauses steigt und hinüber schaut auf andere Dächer im noblen Hay Al-Kindi Stadtbezirk, dort, wo früher Saddams Elite lebte und heute die politischen Machthaber des neuen Irak residieren. Von oben kann Heidi die beleuchteten Häuser der Minister sehen. Hier brennt 24 Stunden lang das Licht. Heidi hat gelernt, dass für Politiker offenbar ein anderer Stromplan gilt. Wenn ihre Eltern darüber sprechen, werden sie wütend. Mit zwölf Jahren weiß Heidi, was das Wort Korruption bedeutet.

Sie hat aber auch die Bedeutung eines anderen Wortes gelernt: Terror. Wie jeden Tag besuchte Heidi auch am 8. Dezember 2009 ihre Schule. Um elf Uhr hörte sie einen erschütternden Knall. Im 200 Meter entfernten Gerichtsgebäude war ein Sprengsatz explodiert. Die Druckwelle war so stark, dass sie die Fenster der Schule zerstörte. In dem baufälligen Haus brach die Decke ein. Kinder rannten in den Hof. Alle, bis auf Heidi. Aus Angst um ihre sechsjährige Schwester lief sie zur Grundschule. Dort fand sie Jwan, die zitterte vor Angst. Dann zitterte auch Heidi.

Auf dem Weg von dem Haus in die Schule sieht Heidi Männer mit ausgestrecktem Zeigefinger, zornig und drohend. Das ist eines der Lieblingsmotive auf den Wahlkampfplakaten, die derzeit Bagdad zupflastern. Die Geste soll Kraft, Seriosität und Durchsetzungsstärke vermitteln und als Kampfansage an Korruption und Gewalt verstanden werden. "Ich werde die bestrafen, die Euch bestohlen haben", verspricht einer. Wie überall buhlen auch irakische Politiker mit großen Versprechen um die Wählergunst. Doch anders als in anderen Wahlkämpfen fühlen sich in Bagdad selbst Regierungsmitglieder wie Herausforderer des Status quo. Sogar Ministerpräsident Nuri al-Maliki wirbt für Wandel.

Höchste Alarmbereitschaft

Vor den Wahlen sind die Sicherheitskontrollen in Bagdad streng. Fußgänger werden abgetastet, auch wenn sie nur Tomaten kaufen wollen. Autofahrer müssen ihre Ausweise zeigen und den Kofferraum öffnen. Der Wagen wird auf Waffen und Sprengstoff geprüft. Es herrscht höchste Alarmbereitschaft. Weil die Sicherheitskräfte ihre Energie auf die Terroristen konzentrieren, bleiben zu wenige übrig, um den Straßenverkehr zu regeln. Hier herrscht völlige Anarchie. Das einzige Recht, das in Bagdads Straßenverkehr gilt, ist das Recht des größten Dränglers.

Menschen eilen geschäftig über die Bürgersteige, andere flanieren entspannt. Sie wirken nicht so, als würde sie die Angst um das eigene Leben treiben. Sie bleiben neugierig an den Ständen der Buchhändler stehen. Religiöse Literatur, Kochbücher und historische Werke sind beliebt, sogar solche aus der Diktatur. "Ich war Koch bei Saddam", heißt es auf einem Umschlag. An vielen Orten Bagdads ist das neue Lebensgefühl zu spüren.

Allawi al-Hilla war immer ein gemischtes Wohngebiet und teilweise vom Kampf zwischen Schiiten und Sunniten stark betroffen. Noch heute sieht man faustgroße Einschusslöcher in den Fassaden. In der Nähe liegt die berüchtigte Haifa Street. Sie war einst eine der blutigsten Straßen Bagdads.

Heute spürt man davon nichts mehr. Schiiten und Sunniten leben nebeneinander. Die Hochhäuser zeigen noch die Zeichen des Kriegs, aber die Straße lebt. Einige Einwohner weigern sich zu sagen, ob sie Schiiten oder Sunniten sind. Vielleicht ist es aus Angst, weil diese Antwort früher den Tod zur Folge haben konnte. Oder sie meinen es ehrlich, wenn sie sagen: Es spielt keine Rolle, wir sind Iraker.