Es ist Kohlernte in Nordkorea. Landauf, landab hacken Arbeitertrupps die grünen Köpfe ab und türmen sie am Feldrand zu großen Bergen auf. Armee-Einheiten verladen sie auf altmodische Lastwagen und transportieren sie in die Dörfer und Städte, wo die Menschen in Gruppen antreten, um ihre Zuteilungen in Empfang zu nehmen. Auf Handkarren verfrachten sie ihren Kohl nach Hause. Die Frauen werden die Blätter in großen Krügen zu Kimchi einlegen, dem Nationalgericht, das in den langen Wintermonaten für viele Nordkoreaner die einzige Vitaminquelle ist, und eine von wenigen Möglichkeiten, dem täglichen Maisbrei ein wenig Geschmack zu verleihen.

Die Ernte war heuer besser als letztes Jahr. Doch was heißt das schon in einem Land, das jeden Herbst erneut vor der Frage steht, ob das Volk im Winter unter Hunger leiden wird oder nur unter Mangelernährung? Regierungen in aller Welt diskutieren, mit wie viel Geld sie die Nordkoreaner unterstützen wollen und ob die Spenden nicht ein Regime stützen, das seine eigenen Devisen lieber für Waffentechnologie und Oberschichtluxus ausgibt als für Lebensmittelimporte.

WFP-Repräsentantin Claudia von Roehl ist überzeugt, dass ihre Hilfsaktionen nicht dem Herrschaftsklan von Diktator Kim Jong-il oder der Armee zugutekommen, sondern den Bedürftigsten des Landes. "Unsere Zielgruppe sind vor allem Kinder, Schwangere und stillende Mütter", erklärt sie. Ende der Neunziger, kurz nach der letzten verheerenden Hungersnot, litten zwei Drittel der Kinder unter Kleinwüchsigkeit und anderen Missbildungen, heute sind es immer noch halb so viele. "Wenn wir auf dem Land unterwegs sind und Kinder fragen, wann sie zum letzten Mal ein Ei gegessen haben, ist das meistens schon einen Monat her", sagt von Roehl. WFP, das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen, versorgt deshalb Familien, Krankenhäuser, Waisenheime und Schulen mit Spezialnahrung, die in nordkoreanischen Fabriken aus gespendeten Lebensmitteln produziert wird. Um zu kontrollieren, dass die Lieferungen tatsächlich dort ankommen, wo sie hinsollen, schickt WFP 18 ausländische Inspektoren durchs Land, die innerhalb von 24 Stunden bei jedem Projektpartner Zugang verlangen können. Das viel größere Problem sei derzeit, international Spenden aufzutreiben. Südkorea und die USA, lange die größten Geberländer, haben kein Geld mehr bewilligt, seitdem Nordkorea 2009 seine zweite Atomwaffe testete. Obwohl WFP im April einen Notaufruf startete und für 2011 um 200 Millionen Dollar bat, hat das Programm bisher nur 64 Millionen Dollar eingesammelt.

Obwohl die humanitäre Notlage außer Frage steht, plädieren viele internationale Organisationen dafür, lieber Geld in Projekte zu investieren, die den Nordkoreanern helfen, sich selbst zu ernähren. "Schauen Sie sich diese Berge an", sagt Francesco Rezzonico von der Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) bei einer Autofahrt südwestlich von Pjöngjang. "Früher war das alles bewaldet, aber jetzt sind sie kahl, weil die Menschen auf der Suche nach Essen und Feuerholz alles gerodet haben." Nun zeigt ihnen der Agrarexperte, wie sie die Hänge landwirtschaftlich nutzen können. In dem Dorf Changmae beackern 80 Frauen gemeinsam einen Berghang. Sie legen Grasrabatten an, um die Erosion zu stoppen, und pflanzen Gemüse, das auch mit kargem Boden auskommt. Da die Schweizer ihren nordkoreanischen Partnern die Zusage abgerungen haben, dass die Frauen ihre Erträge selbst behalten und nicht bei der Produktionsgenossenschaft abgeben müssen, ist das Engagement groß. "Der Boden ist schlecht, aber je länger wir ihn bearbeiten, umso besser wird er", sagt Frau Jo, die Teamleiterin. "Der Hang hilft, ein bisschen zusätzliches Einkommen zu verdienen." Sie zeigt auf eine sauber gesetzte Reihe kleiner Sträucher. "Da ziehen wir Aroniabeeren", erklärt die Bäuerin. "Für ein Kilogramm Beeren kann ich zehn Kilogramm Mais bekommen." Auch Chilischoten oder Sesam sind lukrative "cash crops", wie es im Entwicklungshelfervokabular heißt: Feldfrüchte, die sich gut verkaufen lassen.

Davon zu reden, wäre in Nordkorea noch vor Kurzem tabu gewesen. Denn laut kommunistischer Ideologie versorgt das staatliche Verteilungssystem die Menschen mit allem, was sie brauchen: Arbeit, Wohnung, Kleidung, Essen. Doch der öffentliche Versorgungsmechanismus funktioniert schon seit Langem nicht mehr. Laut WFP bekamen viele Menschen dieses Jahr zeitweise nur ein Viertel der Lebensmittelrationen, die ihnen zustehen. Um zu überleben, versorgen sich die Nordkoreaner zunehmend auf Märkten. Offiziell erlaubt die Regierung ihren Bauern zwar nur einfachen Tauschhandel, doch unter der Hand blüht der Schwarzmarkt, vor allem mit Importwaren aus China.

Improvisieren

Doch wer handeln will, muss wie Bäuerin Jo etwas zu bieten haben. "Der Landbevölkerung geht es noch vergleichsweise gut, weil die Leute ihre eigenen Hausgärten haben, in denen sie etwas ziehen können", sagt Karl Fall, der für die deutsche Welthungerhilfe in Nordkorea arbeitet. "Am schlimmsten ist die Situation für die Städter." Fall hat deshalb am Rand von Pjöngjang Gewächshäuser errichtet. "Wir haben hier keine Heizung, daran wäre bei Nordkoreas Energieproblemen nicht zu denken", erklärt er. "Dafür haben unsere Gewächshäuser auf der Nordseite dicke Lehmwände, die tagsüber von der Sonne aufgeheizt werden und die Wärme nachts abstrahlen."

Doch egal wie effektiv die Nordkoreaner ihr Land bewirtschaften, das Ziel der Selbstversorgung ist angesichts der natürlichen Bedingungen unerreichbar. Die wirklich fruchtbaren Regionen der Halbinsel, die jahrhundertelang die Kornkammer der Nation bildeten, liegen südlich des 38. Breitengrads, der Nord- und Südkorea seit 60 Jahrzehnten trennt. "Nordkorea wird seine Probleme nicht lösen, bevor es nicht aus seiner Isolation tritt", sagt ein europäischer Diplomat. "Leider herrscht in der Führung das Dogma, dass dafür zunächst Seoul und Washington Zugeständnisse machen müssten - in ihren eigenen Augen sind die Nordkoreaner immer die Opfer."