Sidi Bouzid ist wieder das, was es immer war. Eine staubige Kreisstadt im Inneren Tunesiens, gezeichnet von Armut und Aussichtslosigkeit. Vor einem Jahr wurde die Ortschaft mit ihren 40.000 Einwohnern weltweit bekannt - durch die Verzweiflungstat des arbeitslosen Mohamed Bouazizi, der sich am 17. Dezember mit Benzin übergoss und anzündete. Das Schicksal des 26-jährigen Gemüsehändlers, der knapp drei Wochen später an seinen schweren Verbrennungen starb, trat in der arabischen Welt eine Lawine los, wie es sie noch nie zuvor in der Geschichte der Region gegeben hatte.

Der "Arabische Frühling" folgte

In Ägypten, Libyen, Jemen, Bahrain und Syrien brachen revolutionäre Unruhen aus. Marokko, Algerien, Jordanien und Oman wurden von Protesten erschüttert. Lediglich Saudi-Arabien und die superreichen Golfstaaten blieben bislang verschont, deren Könige und Emire ihre Untertanen mit milliardenschweren Sozialzahlungen einlullen konnten. Von den orientalischen Langzeitpotentaten stürzte als erster Tunesiens Ben Ali, anschließend Ägyptens Hosni Mubarak, gefolgt von Libyens Muammar Gaddafi. Auch die Tage von Syriens Präsident Bashar al-Assad scheinen gezählt, selbst der gerissene Machtjongleur Ali Abdullah Saleh unterschrieb im Jemen inzwischen seine Abdankung.

Tunesien versteht sich seitdem als die Wiege des Arabischen Frühlings. Die ersten Schritte zur Demokratie hat das Zehn-Millionen-Volk inzwischen gemeistert. Bei der Wahl zur verfassungsgebenden Versammlung im Oktober ging die islamistische Ennahda-Partei mit 41 Prozent als stärkste Kraft hervor. Sie stellt seit Mittwoch mit ihrem Vize-Generalsekretär Hamadi Jebali, der 15 Jahre als politischer Gefangener in Haft war, den ersten demokratisch legitimierten Premierminister.

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Zum Präsidenten wählte das Plenum den Arzt und Menschenrechtler Moncef Marzouki vom kleineren Koalitionspartner "Kongress für die Republik (CPR)", einer säkularen, linksliberalen Partei. Gemeinsam will das islamistisch-säkulare Bündnis nun die neue Regierung bilden. Die 217-köpfige Versammlung soll innerhalb eines Jahres eine Verfassung ausarbeiten, die dann ab 2013 die Machtbefugnisse für Regierung und Präsidenten regelt. Der frisch gewählte Staatschef Marzouki versprach seinem Volk einen "klaren Bruch mit Tunesiens Diktaturgeschichte". "Wir Tunesier haben der Welt bewiesen, dass wir ein zivilisiertes Volk sind und die Kraft haben, alle Herausforderungen zu meistern", sagte der 66-jährige Medizinprofessor. Die arabische Welt schaue auf Tunesien, fügte er hinzu. "Sein Erfolg wird Beispiel geben, sein Misserfolg Rückschläge auslösen."

Denn wie in Ägypten, macht auch den neuen Herrschern in Tunis vor allem die Wirtschaft Sorge. Nach wie vor sind 700.000 junge Leute ohne Arbeit, darunter 200.000 mit einem Hochschulabschluss. Seit Monaten beunruhigt eine Selbstmordwelle junger Leute das Land. Tausende wollen nur noch weg. Immer wieder machen sie sich in klapprigen Booten auf zur lebensgefährlichen Überfahrt in Richtung Europa. Um den Ex-Despoten Ben Ali ist es dagegen ruhig geworden, auch wenn ihm in seiner Heimat ein Prozess nach dem anderen gemacht wird und sich seine Hafturteile inzwischen auf mehr als 60 Jahre addieren. Eine Auslieferung durch Saudi-Arabien muss der gestürzte Diktator nicht befürchten, der sich mit seiner Familie in den 2300 Meter hohen Gebirgsort Abha nahe der jemenitischen Grenze zurückgezogen hat.