Wenn man dauernd von Schuldenkrise, Eurokrise, Bankenkrise, Wirtschaftskrise hört und liest, könnte man glauben, die Welt steht nicht mehr lange. Fürchten Sie das auch?

FRANZ VRANITZKY: Die Welt wird noch sehr lange stehen. Von den verschiedenen Kriseninterpretationen, die wir fast täglich serviert bekommen, steht die politische Krise im Zentrum.

Das ist auch so ein Schlagwort. Was heißt politische Krise?

VRANITZKY: Ich verstehe darunter, dass zu meinem großen Bedauern die politischen Akteure in den EU-Mitgliedsländern, aber auch in den USA durch innenpolitische Rücksichtnahmen viel zu lange brauchen, um notwendige Handlungen zu setzen.

Ist die Entscheidungsfindung in der EU nicht viel zu kompliziert aufgebaut, um rasch handeln zu können? Braucht die EU nicht eine Wirtschaftsregierung?

VRANITZKY: Das schlechteste Signal wäre, zu glauben, die EU-Konstruktion sei zu groß, zu unübersichtlich, zu schwerfällig. Das europäische Projekt muss den Bevölkerungen immer wieder aktualisiert nähergebracht werden. Außerdem gilt das alte Kreisky-Wort "Lernen Sie Geschichte" immer noch.

In welchem Zusammenhang?

VRANITZKY: Gar nicht so wenige Politiker greifen aus innenpolitischen Gründen auf den alten Nationalstaat zurück. Der ist ein Konzept des 19. Jahrhunderts, mit dem wir nichts mehr anfangen können. Weil aber die Regierenden eine aktive Europapolitik erheblich vernachlässigen, hilft das den Predigern für eine Rückkehr zum Nationalstaat, den Straches oder den Orbans.

Wie lässt sich das aufhalten?

VRANITZKY: Das europäische Integrationsprojekt ist eine Antwort auf das grässliche 20. Jahrhundert mit zwei Kriegen und 60 Millionen Toten. Das ist der jungen, europäischen Generation als Argument kaum mehr zugänglich. Sie hat keine Kriege erlebt. Die heutigen Antworten müssten sein: Europa hat 500 Millionen Menschen, mehr als die USA oder Russland. Die politische Aufgabe ist es, die nächste, modernisierte Version der Gemeinsamkeit politisch zu formulieren und dann den Bevölkerungen näherzubringen.

Wie lassen sich die gegenwärtigen Krisen noch eindämmen?

VRANITZKY: Ganz aktuell ist der Vorschlag von Binnenmarktkommissar Michel Barnier, für das Bankwesen jetzt wirklich einmal strengere und festere Regeln einzuführen.

Sollten die Banken auf das Sammeln von Einlagen und Kreditvergabe zurückgestutzt werden?

VRANITZKY: Der amerikanische Sündenfall, das Investmentgeschäft vom kommerziellen Bankgeschäft zu trennen, hat auf Europa übergegriffen. Das Rezept liegt auf der Hand, es braucht klare Geschäftsdefinitionen.

Sollte man Banken Spekulationen weitgehend verbieten?

VRANITZKY: Ja. Mehr privat, weniger Staat hat sich in der Zeit der digitalen Revolution, in der mit einem Knopfdruck binnen Sekunden Hunderte Millionen auf die Reise geschickt werden, als Flop erwiesen. Wenn eine Firma zum Beispiel eine Anlage baut, nach Singapur liefert, dauert das Monate. Das hat uns überrollt.

Wie beendet man die Geiselhaft durch Banken, für die stets der Steuerzahler geradestehen muss?

VRANITZKY: Die Politik muss sich überlegen, ob sie vor einigen großen Banken knien und sich damit ein Dauerproblem einhandeln oder ob sie durchgreifen, redimensionieren will. Es braucht klare Regeln. Auch die Einkommen der obersten Bankmanager sind politisch unvertretbar.

Sie glauben wirklich, dass dies gelingen wird?

VRANITZKY: Es muss einfach geschehen. Je schneller, desto besser. Wo gehobelt wird, fliegen eben Späne.

Ist Österreichs gute Bonität als Schuldner in Gefahr?

VRANITZKY: Ich sehe sie mittelfristig nicht in Gefahr.

Spricht jetzt der bedächtige Altbundeskanzler aus Ihnen?

VRANITZKY: Nein, nein. Dass jetzt ein paar Banken ihre Bilanzen entkrampfen, sollte dazu führen, deren Chancen in Osteuropa zu wahren und gleichzeitig dort nicht so exponiert zu sein.

Tut die Regierung genug, um die Bonität zu schützen? Kürzlich hat der Weltwährungsfonds Österreich ermahnt, mehr zu sparen. Die Koalition hat nicht reagiert.

VRANITZKY: Ich bin nicht zufrieden, nein. Die Bemühungen, die öffentlichen Finanzen zu sanieren, sind mir zu zaghaft, die Planperioden für Verbesserungen sind zu lang, besonders auf der Ausgabenseite ist die Regierung viel zu wenig couragiert.

Elferfrage: Wo soll denn gespart werden?

VRANITZKY: Zum Überdruss erwähne ich die Verwaltungsreform.

Es glaubt doch niemand mehr, dass dort etwas weitergeht.

VRANITZKY: Genau deswegen ist die Politik gefordert, muss dort etwa passieren. Alles, was man jetzt macht, hilft beim nächsten Konjunkturabschwung.

Ist Österreich auf der EU-Bühne ausreichend präsent?

VRANITZKY: Wann immer etwas zu entscheiden ist, schauen alle auf Frankreich und Deutschland. Österreich könnte sich stärker in die Debatte einbringen, sich mit anderen Ländern wie Luxemburg und Jean-Claude Juncker zusammentun. Wir haben sehr gute Fachleute, die mehr mitreden könnten. Nur geschieht das nicht.

Ist das ein Vorwurf an Bundeskanzler Werner Faymann?

VRANITZKY: Ich weise keine persönlichen Verantwortungen zu.

Glauben Sie, dass eine Verschlimmerung der wirtschaftlichen Lage FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache politisch in die Hände spielt, sein Wahlsieg dann schon so gut wie sicher ist?

VRANITZKY: Er profitiert von Krisen und vom Krisengefühl der Menschen, aber am meisten profitiert er von der Entscheidungsschwäche der zwei Regierungsparteien.

Warum geht in der Koalition so wenig weiter?

VRANITZKY: Ich bin nicht bei den Ministerrats-Vorbesprechungen dabei und kann keinen Befund abgeben. Aber entscheidend wird sein, wie die Koalition weiter agiert. Die Leute, die Strache zulaufen, sollen aber bitte eines nicht glauben: dass Strache irgendein Problem lösen kann. Dafür gibt es keinen Anhaltspunkt.

Noch einmal zur Krise: Sollen, können besorgte Landsleute ihr Geld in Sicherheit bringen?

VRANITZKY: Nach allem, was man nach einer ruhigen und überlegten Beurteilung des österreichischen Geldwesens sagen kann, sind die Einlagen und Veranlagungen nicht in Gefahr. Politik ist auch, Vertrauen zu bilden. Wenn das geschieht, was ich schon erwähnt habe, dann ist das der wichtigste Beitrag dazu.

Der Euro ist nicht in Gefahr?

VRANITZKY: Der Euro ist nicht in Gefahr, ohne Einschränkung. Aber ich muss auch hier hinzufügen, er wird dann außer Gefahr bleiben, wenn die ausstehenden Maßnahmen auf europäischer Ebene überzeugend sind.

Warum muss man sich um den Euro und das Ersparte keine Sorgen machen?

VRANITZKY: Die Volkswirtschaften der Eurozone sind außer drei, vier Problemländern wirtschaftlich gesund. Sie unterliegen zwar konjunkturellen Schwankungen, aber ihre Leistungsfähigkeit und Profitabilität sind nicht in Gefahr.

Aber kann nicht ein großes, hoch verschuldetes Land wie Italien alle in den Abgrund reißen?

VRANITZKY: Das ist mir zu spekulativ. Bei allen Vorbehalten gegen Italiens politische Führung ist es die drittgrößte Volkswirtschaft der Eurozone und hat ein Leistungspotenzial, das nicht von heute auf morgen verschwindet. Man kann zuversichtlich sein.

Haben Sie persönlich Ihr Geld jetzt speziell investiert?

VRANITZKY: Nein. Ich bin kein Goldener, der in Edelmetall flüchtet. Ich habe auch keine Immobilien gekauft. Und mein Weinkeller ist zu klein, da können Sie eine Schank höchstens zwei, drei Wochen betreiben, dann ist er leer.