Für Kathryne Bomberger passt ein ganzes Gräberfeld in ein Kuvert. Doch davon später.

An die 25.000 muslimische Bosniaken haben sie zusammengetrieben. In diesen heißen Julitagen 1995 in Potoari bei Srebrenica, Bosnien. Tom Karreman und seine niederländischen Blauhelme hatten sie in der UN-Schutzzone nicht schützen können. Es gibt Fotos, auf denen der konsternierte General mit seinem serbischen Kollegen Ratko Mladi das Schnapsglas hebt.

In der Nacht zum 13. begann vereinzeltes Morden, Brandschatzen und Vergewaltigen durch die serbische Miliz. Etliche Flüchtlinge begingen in ihrer Verzweiflung Suizid. Eine Apokalypse menschlichen Tuns mitten in fruchtbarem Bauernland. Am Tag darauf die Selektion. Rund 8.000 Buben, Männer und Greise wurden auf Lastwägen gepfercht und unbekannten Zieles verbracht. Frauen und Kinder per Bus fortgeschafft.

Nur wenige der Männer überlebten, fast zwei Tage lang erschossen Mladis Milizen ihre Gefangenen systematisch. Vorher waren ihnen alle Ausweise und sonstigen Erkennungsmerkmale abgenommen worden, ihre Leichen wurden in Massengräber geworfen, später oft auch wieder ausgebaggert und anderweitig verscharrt. Keine Spur sollte von ihnen bleiben.

Mit Ende des Krieges galten allein in Bosnien 27.734 Bürger als vermisst, rund 13.000 weitere in Restjugoslawien. - Die Schlächter hatten ganze Arbeit geleistet. Bis heute werden immer wieder neue Massengräber entdeckt. Und bis heute seien Anstrengungen im Gange, die unentdeckten noch besser zu verstecken.

Der erwiesene Tod eines Angehörigen kann offenbar leichter ertragen werden als andauernde Ungewissheit. Das, was man Trauerarbeit nennt, hat einen Anfang und kann ein Ende haben. Ungewissheit indes ist mit der ewigen Sehnsucht verbunden, die Verlorenen womöglich doch noch einmal in die Arme schließen zu können. Und: Wie im Kriminalroman gilt auch im Krieg die Regel, wo keine Leichen, da keine Mörder.

99,95 Prozent

Auf Anregung des damaligen US-Präsidenten Bill Clinton wurde 1996 die International Commission on Missing Persons (ICMP) gegründet. Sie sollte anonyme Opfer von Konflikten, aber auch von Katastrophen identifizieren, um den Angehörigen wenigstens die Überreste auszuhändigen und eine entsprechende Bestattung zu ermöglichen. Ohne konkrete Absicht erhielt damit auch die sogenannte forensische Archäologie auf DNA-Basis enormen Schub. Sie arbeitet mit einer recht leicht erklärlichen Methode: Knochenreste anonymer Opfer werden mit der DNA überlebender Verwandter abgeglichen. Gibt es eine Übereinstimmung, liegt die Wahrscheinlichkeitsquote bei 99,95 Prozent.

Obwohl ICMP-Büros heute auf der ganzen Welt operieren, ist die Zentrale in Sarajewo beheimatet. In einem Teil eines modernen Bankgebäudes unweit jenes Fußball-Stadions, das während der Belagerung in einen Friedhof umgewandelt wurde. "Es mag bizarr klingen", sagt die Direktorin Kathryne Bomberger, "aber Srebrenica hat unsere Arbeit enorm beschleunigt." Gemeint sind damit die relative Übersichtlichkeit der Leichenhalden und die relativ leicht aufzufindende Verwandtschaft. 6600 Überreste der Mordopfer konnten bereits identifiziert und ihren Familien übergeben werden. Im ganzen Westbalkan konnte bisher 16.200 anonymen Opfern post mortem ihre Identität wiedergegeben werden, fast ebenso viele harren noch darauf, aus einem Haufen Knochen wieder zur Person zu werden.

Rechtshilfe

Monatelang sind Bomberger und ihr Team über die Dörfer gezogen und haben dabei bisher fast 90.000 Blutproben genommen: "In den ländlichen Gebieten müssen wir den Menschen erst erklären, was wir machen und wozu es gut ist", sagt die dynamische Wissenschaftlerin im Gespräch mit der Kleinen Zeitung. Was als humanitäre Arbeit begonnen habe, sei mittlerweile zu veritabler Rechtshilfe geworden: "Zum einen bieten wir ein Ende der quälenden Hoffnung und damit einen ersten Schritt zur Annahme des Todes", sagt Bomberger, "andererseits können Identifizierungen auch als Beweismittel in allfälligen Prozessen gegen tatverdächtige Ex-Milizionäre eingebracht werden." Weghilfe auf der Suche nach Gerechtigkeit. Das Wichtigste aber sei, den Opfern ein "Life after death", ein Leben nach dem Tode zu geben.

Der Ruf des ICMP ist mittlerweile weltweit einzigartig: So wurden in Sarajewo auch Tsunamitote, Absturz- und Hurrikanopfer mittels DNA-Abgleich identifiziert. Dabei kosten die blanken Tests etwa 250 Euro, dazu kommen natürlich Rechercheaufwand, Grabungskosten etc. Rund fünf Millionen Euro Jahresbudget gibt es, teils vom bosnischen Staat, aber auch von anderen europäischen Ländern und den USA finanziert.

Blutflecke

Kathryne Bombergers Laborräume haben nichts Ungewöhnliches an sich. Bildschirme, Computer, Minipipetten. Den zentralen Testraum dürfen nur Mitarbeiter betreten, deren DNA der Computer kennt und im Falle einer Übereinstimmung sofort aussondert. Mittlerweile sind nur noch winzige Materialmengen für den Test erforderlich: vier kleine Blutflecke als letzter Gruß der Anverwandten und ein Gramm Knochenrest des Opfers. Dann rasen die Merkmale durch die Datenbank, ihr Ergebnis bereichert die Friedhöfe dieser Welt täglich um neue Namen. Und ihre Hinterbliebenen um endgültige Gewissheit.