Weltoffen und selbstbewusst präsentierte sich Chinas Regierungschef Wen Jiabao bei seiner Europatour durch Ungarn, Großbritannien und Deutschland. Bei seiner letzten Station in Berlin traf er sich zudem mit 13 Ministern seines Kabinetts zur ersten deutsch-chinesischen Regierungskonsultation. Doch über die größten Probleme spricht man am besten im kleinsten Kreis: In der eleganten Liebermann-Villa am Berliner Wannsee speisten die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und der chinesische Ministerpräsident Wen Jiabao gestern Abend, begleitet nur von einer Handvoll enger Vertrauter. Themen, bei denen offene Worte nottun, gibt es reichlich, von den Menschenrechten über Wirtschaftsstreitigkeiten bis hin zur Reform des globalen Finanzsystems.

"Feindliche Kräfte im In- und Ausland"

Doch wie offen Wen mit Merkel über Chinas Positionen und Pläne reden kann, ist fraglich. Denn auch in Peking werden die wichtigsten Fragen nur im innersten Führungszirkel diskutiert, und viele der dort vertretenen Ansichten sind keineswegs für die Öffentlichkeit bestimmt. So etwa der Inhalt des Kommuniques, welches das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei am 5. März verschickte: "Feindliche Kräfte in- und außerhalb Chinas versuchen uns zu Veränderungen zu drängen", heißt es darin. "Sie versuchen mit allen Mitteln, unsere Entwicklung zu behindern, unserem Image zu schaden und unsere Ideologie und Kultur zu infiltrieren. Sie wollen uns drängen, westliche Werte und das westliche politische System zu akzeptieren."

Chinas Feinde würden "immer stärker, immer professioneller, immer brutaler, immer besser organisiert und technisch immer versierter", warnt die Führung weiter und fordert den, den Kampf gegen negative Einflüsse auf allen Ebenen zu verstärken, "um die Machtbasis der Partei zu sichern". Es folgen mehrere Seiten voller detaillierter Anweisungen, die mit dem Vermerk "Geheim" an die 7300 wichtigsten Kader des Landes verschickt wurden. Auf jedes Exemplar waren Seriennummern und Strichcodes gedruckt, um die Empfänger persönlich für die Geheimhaltung haftbar machen zu können. Auf den Verrat von Staatsgeheimnissen steht im schlimmsten Fall die Todesstrafe.

Angst vor "westlichen" Ideen

Aber nun wird der Inhalt des Geheimpapiers doch bekannt. Zwei ausländische Journalisten, der Korrespondent unserer Zeitung und ein Kollege der dänischen "Information", erhielten Einblick in eine Reihe von internen Dokumenten mit brisanten Informationen. Sie zeigen, wie sehr die Parteispitze die Ausbreitung vermeintlich "westlicher" Ideen wie Demokratie, Menschenrechten oder Meinungsfreiheit fürchtet und mit welchen Methoden sie den Staatsapparat zu einem Bollwerk gegen Kritiker und Andersdenkende auszubauen versucht. "Die Ausbreitung von gefährlichen Informationen oder illegalen politischen Veröffentlichungen zu verhindern, ist unsere wichtigste Aufgabe", mahnt die Parteispitze.

Die Öffentlichkeit soll davon möglichst nichts mitbekommen, denn gleichzeitig verbreitet die Führung ausführliche Instruktionen, um im In- und Ausland das Bild eines freiheitlichen und rechtsstaatlich agierenden Systems zu vermitteln. "Chinas Image muss für friedliche Entwicklung, Fortschritte in Sachen Demokratie und eine offene Gesellschaft stehen", heißt es in einer Ende Januar verschickten Direktive mit dem Titel "Schwerpunkte der Propagandaarbeit 2011". Es müsse gezeigt werden, dass die Politik der Partei stets den Interessen des Volkes diene und Chinas Entwicklungsstadium angemessen sei.

Das derzeit wichtigste Anliegen der Partei ist demnach die Aufrechterhaltung ihres Informationsmonopols. "Alle illegalen und gefährlichen Informationen von chinesischen und ausländischen Webseiten müssen vollständig blockiert und gelöscht werden", heißt es in einem Papier aus dem Propagandaministerium. "Die Überwachungsmethoden müssen verbessert und alle illegale Verbreitungsmöglichkeiten rechtzeitig erkannt werden." In einer landesweiten Kampagne sollen bis Ende des Jahres alle Verlage, Redaktionen, Druckereien und Internetbetreiber überprüft und ihre Mitarbeiter für heikle Inhalte sensibilisiert werden.

Die totale Zensur

Selbst in Online-Shops soll kontrolliert werden, ob zwischen den Kaufangeboten illegale Texte oder Bilder versteckt sind. Zollbeamte müssen verstärkt nach verbotenen Büchern und Zeitschriften suchen. "Als gefährliche Informationen oder illegale politische Veröffentlichungen gelten alle Inhalte, die aggressive Information über die Kommunistische Partei, die Parteiführung, das sozialistische System, unsere Gesetze oder Medien verbreiten oder ein anderes politisches System unterstützen", lautet die offizielle Definition. Als "besonders gefährlich" werden Informationen über Ämterbesetzungen und "Gerüchte über interne Kämpfe in der Partei" eingestuft, ebenso "Ideen zu Reformen des politischen Systems". Verboten sei es außerdem, die "chinesische Revolutionsgeschichte falsch darzustellen, separatistisches Gedankengut zu verbreiten, Spannungen zwischen ethnischen Gruppen zu schüren, religiösen Extremismus zu betreiben, gesellschaftliche Konflikte anzustacheln oder zu Massenereignissen anzustiften". Für überführte Verbrecher gelte in allen Fällen die Devise: „Schnell anklagen, schnell verurteilen und schnell ausschalten, um mögliche Nachahmer abzuschrecken und die Zustimmung des Volkes zu gewinnen."

Denn die Beeinflussung der öffentlichen Meinung ist die zweite große Aufgabe, vor der die Partei sich sieht. Das Zentralkomitee gibt detaillierte Instruktionen, mit welchen Mitteln die chinesische Bevölkerung auf Linie gebracht werden soll. Auf allen Kanälen, von klassischen Medien über das Internet bis zum Handy, sollen politisch korrekte Fakten über Chinas Geschichte und Gegenwart verbreitet werden, etwa in Form von Filmen, Fernsehgalas oder Ratespielen. Staatliche und private Einrichtungen sind gleichermaßen angehalten, Vorträge und Diskussionsveranstaltungen abhalten, das Singen von Parteiliedern zu fördern oder Wettbewerbe im Schreiben von patriotischen Aufsätzen zu veranstalten (Themenvorschlag: "Wie werde ich ein moralischer Mensch").

Die ideologische Bildung soll nicht nur bei der Arbeit, sondern auch in der Freizeit gefördert werden, etwa durch sogenannte "Rote Reisen" an die Orte der Revolution. "Das ist etwas, das den Menschen Freude bereitet", schreibt die Parteiführung. Der Aufbau patriotischer Ausbildungsorten müssen auf allen Ebenen gefördert und das Konzept der "Roten Reisen" als Marke etabliert werden.

Propagandamaschine läuft auf Hochtouren

Wichtiger Bestandteil der Propagandaarbeit sind auch Jubiläen, etwa der dritte Jahrestag des Erdbebens von Sichuan, bei dem 2008 rund 70.000 Menschen starben. "Der Wiederaufbau muss als Chance benutzt werden, um die besonderen Vorteile des Sozialismus mit chinesischen Eigenschaften bekannt zu machen", versuchte Peking das Beben nun für seine Selbstdarstellung einzuspannen. Ähnlich wurde das 60. Jubiläum der sogenannten "friedlichen Befreiung Tibets" am 23. Mai instrumentalisiert, um die "Solidarität der Ethnien", den "großartigen Erfolg der landesweiten Religionspolitik der Partei" und die "überragenden wirtschaftlichen Veränderungen in Tibet in den vergangenen 60 Jahren" zu zeigen.

Besonders im Fokus der Partei sind Chinas Studenten. Von ihnen geht nach Ansicht der Führung die größte Gefahr für Angriffe auf ihre Autorität aus. Deshalb soll die Überwachung von Vorlesungen, Diskussionsveranstaltungen und Internetforen verstärkt und die "ideologische und politische Ausbildung" intensiviert werden. "Die Ausbildung in ideologischem und politischem Gedankengut hat höchste Priorität und soll die ganze Universitätsstudium begleiten", heißt es in einem Papier vom vergangenen Dezember. Studenten sollten "Revolutionsbildung annehmen und die aktuelle chinesische Situation in der Praxis kennenlernen".

Die Dokumente bestätigen Trends, die chinesische Regimekritiker und internationale Beobachter seit langem beschreiben: Einerseits nehmen die Zensur von Medien und Internet sowie die Repressalien gegenüber Andersdenkenden stetig zu, andererseits soll die umfassendste Propagandakampagne seit Jahren das Volk auf Linie bringen. "Dies zeigt, dass China keineswegs auf dem Weg ist, eine freiere Gesellschaft zu werden, wie manche westliche Regierungen gerne glauben wollen", sagt Jean-Philippe Béja, Chinaexperte am Zentrum für Internationale Studie in Paris, einer von mehreren Fachleuten, von denen diese Zeitung über den Inhalt der Dokumente sprach. "Eher ist das Gegenteil der Fall." David Bandurski, Experte für chinesische Medien an der Hong Kong University, sieht in den Interna einen weiteren Beweis dafür, dass in Peking derzeit nicht mehr die Reformer, sondern die Hardliner das Sagen haben: "Die Kluft zwischen der Realität und dem Image, das die Partei gerne vermitteln will, wird immer größer." Das Bild, das Regierungschef Wen Jiabao seiner deutschen Amtskollegin vermitteln will, ist sicherlich ein anderes.