Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat einen hochroten Kopf, seine Stimme ist erkennbar aufgeraut und droht fast zu kippen. Doch Erdogan ist nicht zu stoppen. Mit allem, was seine Stimmbänder hergeben, bearbeitet er eine mehrere Hunderttausend Menschen umfassende Masse, wenige Tage vor den am Sonntag stattfindenden Parlamentswahlen. "Wir brauchen jede Stimme", ermahnt der Regierungschef seine Anhänger bei der Abschlusskundgebung in Istanbul. "Wir wollen 367 Sitze im Parlament."

Seit Wochen tobt in der Türkei ein erbitterter Wahlkampf zwischen der islamisch grundierten Regierungspartei AKP von Ministerpräsident Erdogan auf der einen und den Oppositionsparteien auf der anderen Seite. Erdogan beschimpft seine Gegner als "unmoralische Halunken" oder "Helfer von Terroristen", während die Opposition ihn wahlweise als "korrupt" oder "geisteskrank" apostrophiert.

Erdogans Sieg steht fest

Eigentlich könnte der Wahlkampf für alle Parteien in größerer Gelassenheit vonstattengehen, denn dass Erdogan die Wahlen am Sonntag zum dritten Mal in Folge gewinnen wird, stellt auch die Opposition kaum in Zweifel. Erdogan kann auch etliche Pluspunkte vorweisen, vor allem eine boomende Wirtschaft und eine Außenpolitik, die dem Land in den letzten Jahren mehr und mehr Einfluss und Reputation im sensiblen Nahen Osten gesichert hat. Er hat es geschafft, den Einfluss des einst mächtigen Militärs fast völlig auszuschalten. Schon jetzt dürfte er der mächtigste Ministerpräsident sein, den das Land seit Einführung des Mehrparteiensystems 1949 je hatte.

Doch Erdogan will mehr: Sein wichtigstes Projekt nach den Wahlen ist die Verabschiedung einer neuen Verfassung. Mit dem erklärten Ziel, dass derzeitige parlamentarische System in ein Präsidialsystem nach französischem oder amerikanischem Muster umzuwandeln. Dass er dabei der Präsident werden will, versteht sich von selbst.

Dieser Griff nach der unumschränkten Macht hat alle Oppositionsparteien zumindest so weit vereint, dass sie verhindern wollen, dass Erdogan die dafür notwendige Mehrheit im kommenden Parlament bekommt. Um allein über eine neue Verfassung entscheiden zu können, ist eine Zweidrittelmehrheit - das sind 367 Mandate - nötig.

Bekommt Erdogan 330 Mandate, kann er eine neue Verfassung, die mit diesem Quorum das Parlament passiert hat, der Bevölkerung zur Abstimmung vorlegen. Damit die Opposition wirklich etwas mitzureden hat, muss sie es schaffen, die AKP unter 330 Sitze zu bringen.

Die Erbitterung, mit der der türkische Wahlkampf geführt wird, hängt aber auch mit der großen Polarisierung in der Bevölkerung zusammen. Die Gräben zwischen der konservativ-religiösen Anhängerschaft der AKP und dem säkularen Teil der Türken, die entweder die sozialdemokratische CHP, die rechtsnationalistische MHP oder die unabhängigen kurdischen Kandidaten unterstützen, sind tief.

Bereits jetzt ist das Land unter Erdogan sehr viel islamischer geworden, als es noch vor zehn Jahren war. Deshalb befürchten die Gegner Erdogans auch, dass eine von der AKP allein geschriebene Verfassung nicht nur ein Präsidialsystem bringen würde, sondern die islamischen Vorstellungen der AKP in den Verfassungsrang erhoben werden könnten.

Kleinparteien zittern

Erdogans wichtigster Gegenspieler Kemal Kilicdaroglu, der neue Chef der sozialdemokratischen CHP, hat deshalb wesentlich mehr Zulauf, als die Partei in den Wahlen zuvor hatte. Er kann auf 30 Prozent hoffen, während die meisten Umfragen Erdogan rund 45 Prozent versprechen. Doch das türkische Wahlsystem bevorzugt die großen Parteien. Die Hürde für den Einzug ins Parlament liegt bei zehn Prozent, die Stimmen der Parteien, die darunter bleiben, werden auf die Gewinner verteilt.

Erdogans wichtigstes Ziel ist es deshalb, die Rechtsaußen-Partei MHP, die bei den letzten Wahlen auf 13,5 Prozent kam, unter die Zehn-Prozent-Hürde zu drücken. Er macht deshalb einen betont nationalistischen Wahlkampf, um MHP-Wähler zu sich herüberzuziehen. Außerdem tauchten rechtzeitig zu Beginn der heißen Phase des Wahlkampfes sogenannte Sex-Videos aus anonymen Quellen auf, die führende MHP-Politiker diskreditierten. Erdogan bestreitet, dass seine Regierung etwas damit zu tun hat, doch als Produzenten der Videos kommen eigentlich nur die Polizei oder der Geheimdienst infrage.

Verfehlt die MHP die Zehn-Prozent-Hürde, könnte es dazu kommen, dass Erdogans AKP mit weniger als 50 Prozent der Stimmen trotzdem eine Zweidrittelmehrheit der Mandate bekommt. Zumindest die 330 Sitze, die er braucht, um eine neue Verfassung zum Referendum zu bringen, wären ihm wohl sicher.