H err Präsident, vor einem Jahr trat Kroatien freudlos und ohne Erwartungen der EU bei. Hat sich die Stimmung verbessert oder verschlechtert? IVO JOSIPOVI´C: Der Eindruck stimmt so nicht. Die Stimmung war feierlich, das Volk sehr stolz. Die Kroaten feiern aber nicht so ausgelassen wie die Brasilianer. Die Leute sind nüchtern und realistisch. Sie wissen, dass die EU keine Zauberkräfte besitzt, um die drückenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme des Landes über Nacht zu lösen. Wir wissen, dass wir das selber bewältigen müssen. Was man nach einem Jahr sagen kann: Kroatien hat heute in Europa und weltweit eine völlig andere Stellung. Wir werden als aufstrebendes und wandlungsfähiges Land wahrgenommen.

Welche Hoffnungen haben sich nicht erfüllt? JOSIPOVI´C: Dem Land, seinen Regionen und Gemeinden ist es noch nicht gelungen, die Fördermittel der EU für Zukunftsprojekte auszuschöpfen. Da sind wir noch ungeübt. Die EU ist ein Werkzeug, mit dem wir erst umgehen lernen müssen.

Zum Gebrauch des Werkzeugs gehört es auch, zu den Europawahlen zu gehen. Nur ein Viertel der Wahlberechtigten nahm an der EU-Wahl Teil. Woher kommt die Apathie als Neuling?

JOSIPOVI´C: Kroatien steckt in der Krise. Das schlägt sich auf die Leute nieder, sie sind enttäuscht. Demokratie auf europäischer Ebene ist etwas anderes als auf nationaler Ebene. Deshalb ist es wichtig, dass das Europaparlament in seinen Kompetenzen gestärkt wird. Das würde die Leute motivieren und der EU mehr demokratische Legitimation geben.

Welche Stärkung des EU-Parlaments schwebt Ihnen vor? JOSIPOVI´C: Jean-Claude Junckers Kür zum Spitzenkandidaten für die EU-Wahl und seine Nominierung zum Kommissionspräsidenten war schon ein wichtiger und richtiger Schritt.

Das haben aber nicht alle Regierungschefs so empfunden. JOSIPOVI´C: Natürlich sind solche Dinge kontrovers. Denn wer die Macht ausübt, wird immer versuchen, sie zu verteidigen.

Viele sehen Juncker als Symbolfigur für das alte Europa. JOSIPOVI´C: Großbritannien kritisiert ihn aber genau aus dem gegensätzlichen Grund. Für die Briten ist er zu europäisch. Für mich ist er ein ausgezeichneter Kandidat.

Brauchen wir mehr oder weniger Europa? JOSIPOVI´C: Das lässt sich pauschal nicht beantworten. Es gibt Bereiche, wo wir mehr Europa brauchen, zum Beispiel in der Außenpolitik. Da ist Europa noch zu vielstimmig. Das sieht man im Ukraine-Konflikt. Die nordischen Länder erleben aus ihrer historischen Erfahrung heraus die Bedrohung durch Russland viel unmittelbarer als Österreich und Kroatien. Es gibt aber auch Bereiche, in denen Brüssel sich zurücknehmen muss, vor allem bei der Regulierung von Dingen des Alltags. Ist es wirklich notwendig, Gewicht und Größe einer Frucht normativ festzulegen?

War es klug vom offiziellen Österreich, Kremlchef Putin zu einem Zeitpunkt einen Empfang und eine Bühne zu bereiten, da die EU über eine Verschärfung der Sanktionen diskutiert? JOSIPOVI´C: Ich habe mit Bundespräsident Heinz Fischer darüber ausführlich in Sarajevo gesprochen. Ich teile seine Ansicht, dass Dialog nie unklug ist. Amerika korrespondiert jeden Tag mit Russland. Ich sehe das nicht als Zeichen von Schwäche. Nur starke, anerkannte Gesellschaften können einen gefährdeten Dialog in Gang halten.

Der britische Premier David Cameron hat mit dem EU-Austritt gedroht, sollten die Regierungschefs an Juncker festhalten. Ist eine EU ohne Großbritannien vorstellbar?

JOSIPOVI´C: Das müssen die Briten selbst entscheiden. Aber es wäre ein Unglück für beide Seiten, für die EU und für Großbritannien. Da reicht ein Blick auf die Handelszahlen. London kann kein Interesse an einem Austritt haben.

Ist das europäische Projekt in Gefahr? JOSIPOVI´C: Die größte Bedrohung ist, dass Europa wirtschaftlich nicht in Schwung kommt. Die Idee Europa bleibt jedoch vital und gültig. Europa als Friedensprojekt, ich sage das als Präsident eines Landes, in dem vor 20 Jahren noch Krieg herrschte. Was seit den 50er-Jahren auf dem europäischen Kontinent an Friedensarbeit geglückt ist, ist und bleibt spektakulär.

Soll Europa eines Tages ein Bundesstaat wie die Vereinigten Staaten von Amerika werden? JOSIPOVI´C: Das halte ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt für ausgeschlossen. Solange ich lebe, werde ich Kroate bleiben und mich zugleich als Europäer fühlen und bekennen. Diese doppelte Identität macht Europa aus, und es wäre unsinnig, die nationale Identität zu verleugnen. Aber ein Menschenleben währt kurz und die Geschichte schreitet rasch voran. Europa braucht Geduld.

Übersteigertes Nationalgefühl ist aber noch immer ein großes Hemmnis für die europäische Einigung. Darunter litten auch die Gedenkveranstaltungen am vergangenen Wochenende in Sarajevo. Serben, Kroaten und Muslimen gelang es nicht, gemeinsam an das Attentat zu erinnern. War das eine vertane Chance? JOSIPOVI´C: Die Serben fühlten sich durch eine anklagende Erinnerungstafel am alten niedergebrannten Rathaus in eine kollektive Täterrolle gedrängt und wiesen das zurück. Das ist schade, aber vielleicht gelingt es, in zehn Jahren das nächste Gedenken gemeinsam zu feiern. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Geschichte mehrere Sichtweisen und Narrative kennt. Sogar in Kroatien haben wir unterschiedliche Blicke auf den Zweiten Weltkrieg und sind uns nicht in allem einig darin, was während des Zweiten Weltkriegs geschah. Denken Sie an die Waldheim-Affäre. Auch hier war die österreichische Binnenwahrnehmung eine andere als das Urteil von außen. Wir dürfen nur nicht zulassen, dass die Geschichte zur politischen Bürde für die Gegenwart wird. Das Konzert der Wiener Philharmoniker in Sarajevo war eine Botschaft, die auch auf die Ferngebliebenen abstrahlte.

War es nicht ein sehr uneuropäischer Akt der bosnischen Serben, zur gleichen Zeit ein paar Kilometer weiter den Attentäter Princip mit einem Denkmal zu ehren? JOSIPOVI´C: Es war keine gute Entscheidung, ich bedaure es, dass sie fernblieben, aber es war ihr Recht und sie hatten subjektive Gründe dafür. Heute würde man den Täter wahrscheinlich einen Terroristen nennen, aber vergessen Sie nicht, Österreich war damals Besatzungsmacht und hat Serbien nach dem Attentat angegriffen. Ich werde oft gefragt, was ich zu Tito oder Tu-dman sage. Ich kann nur in aller Ambivalenz antworten, dass das relevante historische Gestalten waren mit hellen und mit dunklen Seiten.

Viele halten Bosnien für einen dysfunktionalen Staat. Ist es für Sie vorstellbar, dass Serbien und Kroatien sich das brüchige Gebilde eines Tages untereinander aufteilen? JOSIPOVI´C: Das ist ausgeschlossen und auch nicht unsere Politik. Serbien und Kroatien respektieren die staatliche Integrität von Bosnien-Herzegowina. Wir unterstützen unsere Nachbarn, aber sie müssen ihren Staat schon auch selber wollen und gemeinsam daran weiterbauen.

Was ist Ihr Zukunftstraum vom Balkan? JOSIPOVI´C: Dass alle Staaten der Region Teil Europas werden und es schaffen, ihre Gesellschaften zu europäisieren. Natürlich gibt es noch Verwundungen aus dem Krieg. Aber es wächst schon jetzt zusammen. Serben und Kroaten führen gemeinsame Manöver durch, und während der Flutkatastrophe halfen kroatische Soldaten in Serbien. Vor zehn Jahren wäre das noch undenkbar gewesen.

Werden wir eine Art Wiedergeburt des alten Jugoslawien unter europäischem Dach erleben? JOSIPOVI´C: Nein. Wir wollen souveräne gute Nachbarn sein. Das alte Jugoslawien ist tot.