Sind Sie als Historiker von den Ereignissen in der Ukraine überrascht?

TIMOTHY SNYDER: Nein. Es laufen drei Entwicklungen zusammen. Zum einen sind wir seit einem Vierteljahrhundert Zeitzeugen der Herausbildung einer ukrainischen Nation. Zum anderen bastelt Putin an seinem großrussischen Erbe. Ihm schwebt eine euroasiatische Union vor, mit Russland, Ukraine, Kasachstan. Das Projekt ist nun gescheitert. Jetzt greift Putin in seiner Verzweiflung zur Gewalt. Die dritte Entwicklung ist die Emanzipation der EU als Akteur.

Ist die Ukraine nicht ein künstliches Gebilde, ein gespaltenes Land? Ein Teil blickt nach Westen, der andere nach Osten?

SNYDER: Wenn Sie meinen, Österreich ist gespalten zwischen links und rechts, stimme ich der These zu. Dass der Westen der Ukraine anders tickt als der Osten, ist Propaganda. Ein Viertel der Demonstranten auf dem Maidan kam aus dem Osten. Jedes Land ist ein künstliches Gebilde, auch die USA. Gott hat keine einzige Nation geschaffen. Sogar auf der Krim gibt es kaum jemanden, der behauptet, Russland sei seine Heimat.

Es gibt keine zwei Identitäten?

SNYDER: Leute, die Strache wählen, ticken anders als jene, die Vassilakou wählen. Und dennoch sind sie Österreicher.

Auf CNN meinten Sie, Sie sähen Parallelen zu Österreich 1938.

SNYDER: Es erinnert in einem Punkt an den Anschluss: Darf man einem Land erlauben, ein anderes zu zerstören? Der Anschluss hat nicht nur Österreich, sondern auch Deutschland und Europa zerstört. Anders als 1938 gibt es keinen Ukrainer, der die Russen zur Hilfe geholt hat.

Wird noch Blut fließen?

SNYDER: Das ist zu befürchten, weil die politische Logik der Russen darauf abzielt. Putin hat versucht, die Ukraine in die euroasiatische Union zu zwingen. Moskau schickt jetzt Leute in ostukrainische Städte, um Zwischenfälle zu provozieren. Dann kann man dem naiven Westen einreden, dass man einmarschieren musste, um die Ordnung wiederherzustellen.

Will Putin die Ukraine kontrollieren oder reicht ihm die Krim?

SNYDER: Putin wollte etwas Großartiges, Prachtvolles. Putin wollte, dass die Ukrainer Russland lieben. Das ist gescheitert. Die Ukrainer fühlen sich zwar zu den Russen kulturell hingezogen. Sie reden Russisch, auch in Lemberg hört man russische Musik. Die Ukrainer lieben die russischen Klassiker. Putins Traum hat sich zerschlagen. Jetzt will Putin die Ukraine in einen gescheiterten Staat verwandeln. Putin wollte was anderes, das ist nun leider das Ergebnis.

Hat der Westen Fehler gemacht?

SNYDER: Der Westen hat keinen Finger gerührt, als die Ukrainer am Maidan standen. In der Ukraine sind die Leute buchstäblich mit der EU-Fahne in der Hand gestorben. In Österreich oder in Großbritannien gibt es idiotische Debatten über den Austritt aus der EU. Die Europäer haben noch nicht begriffen, wie tief die Enttäuschung der Demonstranten über den Westen ist.

Kissinger meint heute, es sei falsch gewesen, der Ukraine 2008 den Nato-Beitritt anzubieten. Heute redet er von der Neutralität.

SNYDER: Die Nato war nie populär in der Ukraine. Kiew sollte die Sicherheitsbedenken der Russen ernst nehmen. Das heißt nicht, dass Moskau der Ukraine vorschreiben kann, was sie tun soll.

Man hat den Eindruck, dass der Westen mehr Angst vor Sanktionen hat als Moskau.

SNYDER: Die Russen sind sehr verwundbar, erwecken aber den Eindruck, dass sie es nicht sind. Russland ist eng mit dem Westen verwoben. Die Russen senden ihre Kinder auf westliche Schulen, legen ihr Geld im Westen an, verbringen ihren Urlaub in Wien oder Nizza oder Sardinien. Alles, was ihnen wichtig ist, liegt im Westen. Wenn die EU überleben will, braucht sie eine handlungsfähige Außenpolitik. Die Außenpolitik darf sich nicht daran orientieren, ob die Russen Geld in einer Bank haben oder nicht. Wenn jedes Mal bei einer Krise davon die Rede ist, dass Raiffeisen Profit in Russland macht, was jedes Kind in der Ukraine weiß, wird es nie eine gemeinsame europäische Außenpolitik geben.

Was sollte der Westen tun?

SNYDER: Wenn ein europäisches Land in ein anderes europäisches Land einmarschiert, muss die EU handeln. Sonst kann Europa abdanken. Man kann den Russen mit Sanktionen wehtun. Warum verhängt Europa nicht Einreiseverbote gegen die Verantwortlichen in Moskau, friert nicht Konten ein? Solche Sanktionen schaden den Russen mehr als der österreichischen Wirtschaft. Wenn solche Sanktionen verhängt werden, müssen die Russen nach Kasachstan und Kirgistan auf Urlaub fahren statt nach Wien oder Sardinien. Dann wird es für Putin ungemütlich.