Wenn Alice Millier am Sonntag für die 1:12-Initiative stimmt, dann geht es der Verkäuferin im Coop-Supermarkt nach eigenem Bekunden nicht um Klassenkampf, sondern um Gerechtigkeit. "Ich will, dass die Selbstbedienungsmentalität da oben ein Ende hat, dass sich Konzernbosse Millionen dafür genehmigen, dass sie uns kleine Leute ausbeuten." So ähnlich formuliert das auch Ursula Näf, Vizepräsidentin der Schweizer Jungsozialisten, die hinter der Volksinitiative stehen. Die Idee ist simpel: Wird die Initiative angenommen, dann darf in Schweizer Unternehmen künftig niemand mehr als das Zwölffache des Geringstbezahlten verdienen. "Wir dürfen es uns nicht bieten lassen, dass sich ein paar Abzocker wie im Selbstbedienungsladen aufführen", wettert Näf. "Gemeinsam müssen wir festlegen, was ein gerechter Lohn ist." Maßlos nennt sie die Bereicherung einiger weniger – und mit dieser Einschätzung stößt sie in der Schweiz durchaus auf Zustimmung.

Noch gut in Erinnerung haben die Schweizer den Fall von Daniel Vasella, der nach seinem Antritt als CEO und Verwaltungsratspräsident beim Pharmariesen Novartis seine Vergütung in zuvor ungekannte Höhen schraubte. Zwanzig Millionen Franken Jahressalär kassierte Vasella für den Doppeljob zeitweise, das Zehnfache des Ursprungsgehalts. Als Vasella bei seinem Abtritt als Verwaltungsratschef Anfang des Jahres dann auch noch 72 Millionen Franken Abfindung kassieren sollte, war für die sonst so geduldigen Schweizer das Maß voll. "Das geht über alle Dimensionen des Vernünftigen hinaus", kritisierte selbst die Schweizer Bischofskonferenz. Der Druck wurde schließlich so groß, dass Vasella auf seine vertraglich zugesicherte Abfindung verzichtete. Viel verdient wird bei Novartis indes immer noch. Joseph Jimenez, der Vasella 2010 als CEO ablöste, verdiente 2012 immerhin mehr als 13 Millionen Franken – einer Studie des Gewerkschaftsdachverbandes Travail.Suisse zufolge entspricht das einem Lohnverhältnis von 1:219. Bei Roche, wo CEO Severin Schwan mehr als 15 Millionen Franken im Jahr verdient, klafft die Lohnschere demnach noch weiter auseinander: Dort beträgt das Verhältnis 1:261. Kommt 1:12, dann müssen die niedrigsten Löhne entweder deutlich erhöht werden – oder die Top-Manager müssen mit kräftigen Einbußen rechnen.

Doch dass die Initiative angenommen wird, wird immer unwahrscheinlicher. Einer aktuellen Umfrage des Schweizer Rundfunks zufolge sind nur noch 36 Prozent der Schweizer für die Initiative, jeder Zehnte ist unentschlossen, 54 Prozent wollen gegen die Initiative stimmen. Selbst für die Erhöhung der jährlichen Vignettengebühr von 40 auf 100 Franken spricht sich eine größere Mehrheit (50 Prozent) aus. Vor einem halben Jahr war das noch anders: Da waren mehr als die Hälfte der Schweizer noch für den Juso-Vorstoß und hätten laut Umfragen selbst den Wegzug internationaler Konzerne in Kauf genommen.

Mit Hammer und Sichel

Nicht zuletzt eine massive Werbekampagne gegen 1:12 dürfte für den Stimmungsumschwung verantwortlich sein. Mit Hammer und Sichel warnt die rechtspopulistische Schweizer Volkspartei auf Plakaten vor einer drohenden Zerschlagung des Wirtschaftsstandorts Schweiz. Höhere Steuern für alle beschwört der Direktor des Schweizerischen Gewerbeverbands, Hans-Ulrich Bigler, voraus: Die 1:12-Initiative schmälere die Kaufkraft der Schweizer.

Andere Ökonomen erwarten indes den gegenteiligen Effekt: Höhere Löhne für untere Lohngruppen würden den Binnenkonsum und damit die Mehrwertsteuereinnahmen erhöhen, so ihre Argumente. Wer recht hat, lässt sich – nicht zuletzt wegen der vielen Möglichkeiten, die 1:12-Initiative umzusetzen – schwer sagen. Viele Schweizer haben nach monatelangen Zahlenspielen deshalb die ganze Debatte satt. Auch die Unsicherheit dürfte dazu beitragen, dass die Zustimmung für die Initiative sinkt.

Coop-Verkäuferin Alice Millier jedenfalls will bis Sonntag für die Initiative werben. "Ich hoffe einfach, dass wir das schaffen", sagt sie. Dabei hätte dies für sie so gut wie keine Auswirkungen. Das Lohnverhältnis bei Coop liegt – wie bei den meisten kleinen und mittleren Unternehmen in der Schweiz – kaum über 1:12.