Die Lücke zwischen Europa und Asien, der Bosporus, die Meerenge, die mitten durch Istanbul führt und bislang nur durch zwei Autobrücken überspannt wird, ist seit dieser Woche auch für den Schienenverkehr kein Hindernis mehr. Der Marmaray-Tunnel ist das ambitionierteste Infrastrukturprojekt in der Geschichte der Türkei. Rund 3,3 Milliarden Euro hat es gekostet und soll täglich bis zu 1,5 Millionen Menschen befördern können, pro Stunde können 75.000 Personen per Zug in beide Richtungen fahren.

Bis zuletzt wurde fieberhaft gearbeitet. Hunderte Arbeiter räumten Bauzäune ab, in dem großen unterirdischen Bahnhof in Üsküdar wurde noch Rollrasen verlegt und Blumen gepflanzt. Knapp zehn Jahre haben die Istanbuler nun darauf gewartet, dass das Marmaray-Projekt endlich fertig wird. Rund drei Millionen Menschen von den 15 Millionen Einwohnern der größten Stadt Europas müssen jeden Morgen über den Bosporus, um zur Arbeit zu kommen.

Die Folge davon sind tagtäglich endlose Staus vor den beiden Bosporusbrücken, wo vorzugsweise immer eine Person in einem Auto bis zu zwei Stunden braucht, um im Schritttempo über die Brücke zu kommen. Diejenigen, die weniger autoverliebt sind, drängen sich auf die Fähren und Motorboote. Das soll sich nun ändern.

Auf Tausenden Plakaten in der ganzen Stadt und in etlichen Fernsehspots, die seit Wochen allabendlich in die Wohnzimmer flimmern, preist Erdogan rechtzeitig vor den Kommunalwahlen im nächsten Frühjahr die Vorteile von Marmaray an. "In vier Minuten von Asien nach Europa", ist ein unschlagbares Argument.

Ein osmanischer Traum

Generationen von Istanbulern haben davon geträumt, Pläne für den Bau eines Tunnels reichen bis ins Osmanische Reich zurück. Was die meisten gar nicht wissen: Die U-Bahnen und Fernzüge, die nun im Minutentakt unter dem Bosporus durchrauschen und nicht nur Eminönü mit Üsküdar, sondern auch "London mit Peking" verbinden, fahren gar nicht durch einen Tunnel, sondern durch eine Betonröhre, die auf dem Grund der Meerenge liegt.

"Ein Tunnel wäre zwar technisch einfacher gewesen", sagte Hermann Haass, ein Mitarbeiter der deutschen GTZ, der zum technischen Beraterstab des Marmaray-Projektes gehörte, "war aber für den Zugverkehr nicht machbar." "Um die nötige Tiefe für einen Tunnel zu erreichen, wäre das Gefälle so groß geworden, dass Züge den Anstieg aus dem Tunnel heraus nicht mehr geschafft hätten."

Deshalb hat man eine 1,4 Kilometer lange Betonröhre auf dem Grund des Bosporus verlegt, die immerhin auch noch 62 Meter unter der Wasseroberfläche verläuft und damit die tiefste Schienenquerung unter Wasser weltweit darstellt. Wenn man weiß, dass das Wasser im Bosporus an der Oberfläche vom Schwarzen Meer ins Marmarameer strömt, am Grund aber genau andersherum fließt, kann man ermessen, welches Feingefühl nötig war, um die 60 Meter langen Teilstücke der Röhre aneinanderzulegen.

Es gab aber nicht nur technische Probleme. Bei den Ausschachtungen für den Bau stießen die Arbeiter auf archäologische Artefakte, die aufwendig geborgen und gesichert werden mussten. Das hat die Bauzeit um mehr als vier Jahre verlängert.

Die Skepsis fährt mit

Doch die neue Verbindung unter dem Bosporus stößt auch auf viel Skepsis. "Stell dir vor, es gibt einen Wassereinbruch, während du da unten durchfährst oder dich erwischt gar ein Erdbeben am Meeresgrund", sagen besorgte Istanbuler, "das ist ja ein Albtraum." Auch die Planer gehen davon aus, dass es zunächst einige Akzeptanzprobleme geben wird. "Doch das wird sich geben", glaubt der an der Planung beteiligte Vertreter der Istanbuler Verkehrsbetriebe, Hasan Bey. "Die Vorteile sind zu groß."

Tatsächlich wird die S-Bahn, wenn im kommenden Jahr alle Bauarbeiten abgeschlossen sind, Istanbul von West nach Ost über eine Strecke von 120 Kilometern immer am Marmarameer entlang durchgehend miteinander verbinden. Mit der Betonröhre auf dem Grund des Bosporus erlebt Istanbul deshalb tatsächlich eine verkehrstechnische Revolution. "Von 40 Kilometer U-Bahn 2005 werden es 400 km bis 2030", verkündet Ministerpräsident Erdo?an auf den Plakaten in der Stadt. Und da muss man ihm ausnahmsweise einmal recht geben - das ist tatsächlich ein Fortschritt, auch wenn gestern bereits die erste Panne den Tunnel vorübergehend lahmlegte: Wegen eines Stromausfalls blieben die Züge stehen. Die Passagiere gingen kurzerhand zu Fuß weiter.