Das ist Deutschlands Sexaffäre 2013: Der 67 Jahre alte FDP-Politiker Rainer Brüderle vertreibt sich einen Abend an der Hotelbar mit anzüglichen Bemerkungen über das Dekolleté einer "stern"-Journalistin in seinem Tross. Die 28-jährige Laura Himmelreich hatte in der jüngsten Ausgabe des Wochenmagazins ein Porträt über den eben ernannten Spitzenkandidaten mit Szenen dieses schon vor einem Jahr absolvierten Gesprächs garniert (wir berichteten). In der deutschen Politik- und Medienszene wird seither über Alltags-Sexismus und den Umgang von Mann und Frau diskutiert - aber auch über die Frage: Wer ist hier der Täter? Wer das Opfer? Hat Brüderle sich einen sexuellen Übergriff zuschulden kommen lassen? Instrumentalisiert die Journalistin die harmlosen Flirtversuche eines alternden Mannes, um ihn als liberalen Spitzenkandidaten für die anstehende Bundestagswahl zu desavouieren?

Brüderles Parteigenossen wittern eine Verschwörung; und sogar Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel fühlte sich bemüßigt, "einen professionellen Umgang zwischen Politikern und Journalisten" einzumahnen. Aufzuhalten ist die Debatte nicht: Beim Kurznachrichtendienst Twitter gingen unterm Stichwort "Aufschrei" in wenigen Tagen fast 100.000 einschlägige Erfahrungsberichte ein. Die lassen auf eine enorme Dunkelziffer im Bereich "unangemessene Annäherung" schließen.

Machtverhältnis

Dabei geht es längst nicht mehr rein um Politik. Uni-Professoren, die ihre Studentinnen tätscheln, Abteilungsleiter, die ihre Mitarbeiterinnen mit Herrenwitzen in Verlegenheit bringen, Passagiere, die Flugbegleiterinnen begrapschen: Die Beschreibung derartiger Vorfälle wird zum kollektiven Aufschrei. Tenor: "Und ich dachte, ich sei die Einzige, die so was stört". Die geschilderten Vorfälle machen eine Triebfeder der Übergriffe deutlich: Macht gegenüber Abhängigen. Im Job trauen sich viele Frauen nicht, gegen ihre eigenen Kollegen oder Kunden vorzugehen. Die Brüderles, Schwarzeneggers, Strauss-Kahns, Clintons, die sich gegenüber Reporterinnen, Haushälterinnen, Stubenmädchen, Praktikantinnen Übergriffe leisten, sind prominente Symbolfiguren für ein offenbar nach wie vor verbreitetes Verständnis sexueller Hierarchie. Und über das Managerinnen, Kellnerinnen, Sekretärinnen sich nun anonym Luft machen. Wo aber liegt die Grenze zwischen Flirt und Belästigung? Faustregel: An einem Flirt sind immer zwei beteiligt, und Nein heißt Nein. Respektvoller Umgang schließt einseitige Grenzüberschreitungen aus.

"Grapscher-Paragraf"

Konkrete Folgen hat die Affäre auch bereits: Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes in Berlin vermerkt einen Anstieg von Meldungen derartiger Vorfälle seit Beginn der Debatte. Und die liberale Parteifreundin von Brüderle, Silvana Koch-Mehrin, merkt an: "Schon das bloße Thematisieren bewirkt etwas. Damit steigt die Sensibilität für sexistisches Verhalten."

Österreichs Frauenministerin Gabriele Heinisch-Hosek will im Zuge der Diskussion "Po-Grapschen" als Delikt im Strafrecht verankern - bisher gilt abseits arbeitsrechtlicher Bestimmungen nur der Griff auf Busen oder Genitalien als strafrechtlich relevant. Justizministerin Beatrix Karl ist dagegen, etliche Frauen-Interessensverbände sind dafür.

Die Debatte über sexuelle Belästigung wird hierzulande auch durch ein Verfahren befeuert, das Ende letzten Jahres in Graz ergebnislos eingestellt wurde: Ein Mann, der einer Radfahrerin auf das Hinterteil gegriffen hatte, kam straffrei davon, weil eine solche Handlung im öffentlichen Raum nicht als "Tatbestand" zählt.

Detail am Rande: Letzte Woche war der Mann in der selben Causa zu einem Verwaltungsstrafverfahren vorgeladen. Er zog es vor, nicht zu erscheinen. Auch derlei zeigt die Notwendigkeit fortgesetzter Diskussion.