Herr Ministerpräsident, Sie scheiden nach acht Jahren als Chef der Euro-Gruppe aus. Die EU stand mehrfach am Abgrund. Wo steht Europa heute? JEAN-CLAUDE JUNCKER: Wenn wir die jetzige Situation mit derjenigen vergleichen, die wir vor einem Jahr hatten, dann stehen wir heute auf festeren Füßen und auf festerem Boden. Vor einem Jahr haben fast alle über den Austritt Griechenlands aus der Eurozone gesprochen oder haben ihn sogar beschworen und gefordert.

Österreichs Finanzministerin Marika Fekter sagt, Europa sei auf Treibsand unterwegs gewesen.JUNCKER: In der Tat hat es vor einem Jahr weltweit viele Beobachter gegeben, die überzeugt davon waren, dass die Tage des Euro gezählt wären. Der Untergang ist nicht eingetreten, weil richtige Maßnahmen getroffen wurden. Ich denke an den Stabilitätsmechanismus, den uns die wenigsten zugetraut haben, und die Bankenaufsicht. Das waren achtbare handwerkliche Leistungen. Insgesamt ist das Bewusstsein für eine Stabilisierung der Haushalte gewachsen. Irland und Portugal konsolidieren sich. Summa summarum sind wir heute besser aufgestellt als noch vor einem Jahr.

Zugleich warnen Sie vor trügerischer Sicherheit. Was ist derzeit der größte Zündfunke?JUNCKER: Man sollte das Problem Zypern nicht unterschätzen.

Zypern braucht wohl 17 Milliarden Euro. Das wäre seine gesamte Wirtschaftsleistung. Kann das der Inselstaat jemals zurückzahlen? JUNCKER: Das wird für beide eine enorme Herausforderung, für Zypern wie für die Euro-Zone. Die Zeit drängt. Wenn wir den Problemfall Zypern nicht entschlossen lösen, geht selbst von dieser sehr kleinen Volkswirtschaft eine Ansteckungsgefahr aus.

Droht eine weitere Rettung um jeden Preis? JUNCKER: Ich glaube nicht, dass Griechenland eine Rettung um jeden Preis war, und wir werden auch im Fall Zypern keine Rettung um jeden Preis zulassen. Aber wir müssen handeln.

Viele sind von den unentwegten Rettungsmanövern ermüdet. Beschwörungsformeln wie "Wir brauchen mehr Europa" lösen eher Zweifel als Zuspruch aus. Haben Sie für den Verdruss Verständnis? JUNCKER: Ich beobachte sehr genau, dass sich der Graben zwischen europäischer Politik und den europäischen Bürgern immer mehr verbreitert. Vieles von dem, was wir an Europapolitik liefern, wird von den Menschen nicht verstanden und nicht angenommen. Trotzdem muss man für Europa weiterkämpfen, sich argumentativ dafür einsetzen.

Und warum muss man das?JUNCKER: Wenn ich sage, dass wir mehr Europa brauchen, sage ich das nicht, weil mir nichts Anderes einfällt. Ich sage es, weil Europa immer kleiner wird und an Einfluss einbüßt. Wir hatten Anfang des 20. Jahrhunderts 20 Prozent Europäer auf dem Erdball. Heute sind es nur noch elf Prozent. 2050 werden es nur noch sieben Prozent sein und Anfang des 22. Jahrhunderts wird es genau vier Prozent Europäer geben.

Was bedeutet der Schwund?JUNCKER: Unser Anteil an der globalen Wertschöpfung wird massiv fallen. Europa nimmt demografisch an Gewicht ab und verliert wirtschaftlich an Schwungkraft. Wenn wir in der Welt noch eine Rolle spielen möchten, dann brauchen wir mehr Europa, nicht eine Rückverwandlung der Europäischen Union in nationale Bestandteile, die wieder ihre volle Souveränität zurück wollen.

Genau diese Rückabspulung der Geschichte fordert der dissidente britische Premier David Cameron. Wie werden Sie ihn nächste Woche in Brüssel beim Gipfel empfangen? JUNCKER: Wie immer freundlich. Nicht alles, was Cameron feststellt, ist falsch. Es gibt bei der EU angesiedelte Kompetenzen, die man wieder in die Nationalstaaten zurückholen kann. Darüber besteht im Grundsatz Einverständnis. Dann muss man aber auch bereit sein, gemeinsam darüber nachzudenken, welche zusätzlichen Kompetenzen nach Brüssel transferiert werden müssen, damit Europa sich in der Welt behaupten kann. Das darf keine Einbahnstraße sein.

Wie groß wäre denn der Bedeutungs- und Glamourverlust wenn England ausschiede?JUNCKER: Ich beschäftige mich nicht mit der Frage, weil ich davon ausgehe, dass die Briten ein pragmatisches Volk sind und sich nicht selbst ein Bein stellen. Auch ein großes europäisches Land ist nur groß, weil es zu den führenden Staaten der EU gehört. Großbritannien ohne Europa wird Britannien. Camerons Manöver enthält großes Erpressungspotenzial. Mit dem Revolver an der Schläfe kann man nicht handeln.

Sie gelten in Österreich als leuchtendes Beispiel, wie man auch als kleines Land im Konzert der Großen Geltung haben kann. Wie nehmen Sie Österreich wahr?JUNCKER: Ich bin da nicht objektiv, weil ich Österreich sehr mag. Das Land ist nicht unsichtbar in Europa. Auch der Kanzler gehört zu jenen, die in Brüssel wahrgenommen werden. Mich macht eher besorgt, dass es in Österreich eine zunehmende Ablehnung all dessen gibt, was europäisch ist. Ein europafreundliches, bodenständiges Österreich ist mir lieber als eines, das permanent an sich und an Europa zweifelt.

Sind die Unebenheiten mit Finanzministerin Fekter geglättet?.JUNCKER: Wir leben in geordneter Freundschaft.

Woher rührt Ihre Zuneigung zu Österreich?JUNCKER: Meine Eltern haben, als ich sehr jung war, öfter Urlaub in Tirol gemacht. Ich mag die Berge. Ich mag Manches an der österreichische Aufgeregtheit und Vieles an der Gemütlichkeit. Vor allem aber mag ich die Art und Weise, wie die Österreicher sich durch die Zeit bewegen.