Die Nachrufe sind schon geschrieben, der Leichenschmaus ist bestellt und die Kapellen üben seit Wochen "Time to say goodbye". Der Spiegel titelt mit Uncle Sam auf dem Krankenbett ("Der amerikanische Patient - Vom Niedergang einer großen Nation"), in der ARD wird über die "Zerrissenen Staaten von Amerika" berichtet: "Arm gegen Reich - rechts gegen links. Noch nie waren die Gräben so tief im Land der unbegrenzten Möglichkeiten."

Man könnte auch sagen, selten sind in einem Satz so viele Klischees angehäuft worden.

In der Tat waren die USA schon besser drauf. Angesichts des hervorragenden Zustandes allerdings, in dem sich die Vereinigten Staaten von Europa befinden, wirkt die Schadenfreude über den "Niedergang einer großen Nation" verfrüht. Noch ist nicht ausgemacht, wer als Erster den Bach runtergehen wird, aber der unmittelbar bevorstehende Untergang der USA gehört seit Generationen zu den liebsten Fantasien deutschsprachiger Denker.

Der Dichter Nikolaus Lenau reiste 1832 in die USA, wo er das große Glück zu finden hoffte. Kaum angekommen, fiel ihm auf, "dass Amerika gar keine Nachtigall hat". Dies, notierte er, "scheint mir ein poetischer Fluch zu sein, der auf dem Lande liegt". Die Amerikaner seien "himmelanstinkende Krämerseelen. Mausetot für alles geistige Leben. Die Nachtigall hat recht, dass sie bei diesen Wichten nicht einkehrt." 100 Jahre später wandelte Bert Brecht durch New York und war ebenfalls enttäuscht: "Überall ist dieser Geruch der hoffnungslosen Rohheit, der Gewalt ohne Befriedigung."

Der von den Nazis ins Exil getriebene Philosoph Theodor W. Adorno regte sich über die "die respektlose Verwertung Beethovenscher oder Wagnerscher Themen" im Jazz auf, der mit "echter Negermusik" wenig zu tun habe. Zugleich begeisterte er sich für deutsche Männerchöre, die völkische Gedichte zu Gehör brachten.

Amerika und Europa liegen viel weiter auseinander, als die sechs- bis achttausend Kilometer Luftlinie zwischen den beiden Kontinenten suggerieren. Zwischen Amerika und Europa liegt nicht nur der Atlantik; die politischen und kulturellen Differenzen müssen in Lichtjahren gemessen werden.

Das, was in Washington beschlossen wird, ist für "Joe the plumber", der in Arizona oder Nebraska lebt, bei Weitem nicht so wichtig wie die Frage, wer in seinem County zum Sheriff gewählt wird. Die armen Leute von West Virginia haben für Romney gestimmt; nicht obwohl, sondern weil er ein Milliardär ist, also von Geld etwas versteht. Die feinen Leute von der Ostküste, die ihre Kinder auf Privatschulen schicken, wählten Obama, weil sie schon reich sind und weil ein schwarzer Präsident ihnen ein Gefühl vermittelt, das sie nirgendwo kaufen können: liberal und tolerant zu sein und keine Ressentiments gegenüber Farbigen zu haben.

Romney bediente das Bedürfnis nach materieller Sicherheit, nach einem Häuschen mit Garten, einem neuen Auto und billigerem Benzin. Obama bedient das Verlangen nach emotionaler Zusammengehörigkeit. Romney ist kein großer Rhetoriker, kann aber frei sprechen. Obama ist ein glänzender Redner, aber nur so lange, wie er vom Prompter ablesen kann.

Wenn Obama eine Rede mit den Worten "My fellow Americans", anfängt, klingt das wie der Auftakt zu einer lustigen Familienfete. Dieselben Worte, gesprochen von Romney, hören sich wie die Einleitung zu einer Mormonenfeier an, bei der weder getrunken noch getanzt werden darf. Obama ist ein Entertainer, Romney eine Spaßbremse. Obama wird jeder Patzer verziehen, sogar wenn er die Ermordung von vier Amerikanern in Libyen als "nicht optimal" bezeichnet; als Romney aber von einem "Ordner voller Frauen" sprach, der ihm auf den Tisch gelegt wurde, hörte das globale Gelächter gar nicht mehr auf.

Dabei sind sich die beiden politisch weit ähnlicher, als es die Obama-Fans in Europa wahrhaben wollen. Obama hat versprochen, Guantánamo zu schließen, und sich nicht daran gehalten. Romney würde so ein Versprechen gar nicht erst abgeben. Obama hat keine Skrupel, Drohnen gegen vermeintliche Terroristen einzusetzen. Romney hätte überhaupt keine Skrupel. Bei fast allem, worauf es den europäischen Gutmenschen ankommt, liegen Obama und Romney so nah beieinander wie Greenpeace und Robin Hood in der Ökologie-Debatte.

Nun haben die Amerikaner Obama eine zweite Chance gegeben. Nicht aus Begeisterung, eher aus Fairness heraus. Er hatte von Bush einen angeschlagenen Laden übernommen, jetzt muss er mit seinen eigenen Fehlern und Versäumnissen fertig werden. Ob er dazu in der Lage ist, werden wir in vier Jahren wissen. Auch Clinton hat in der ersten Amtszeit nur geübt und erst in der zweiten Runde gezeigt, was in ihm steckt.

Das globale Interesse an der US-Präsidentenwahl hat wieder einmal bewiesen, dass die Amerikaner nicht nur über ihren Chef entscheiden, sondern darüber, wer die freie Welt führen soll. Ob sie es wollen oder nicht, ob es den "Amerikakritikern" passt oder nicht, die USA können gar nicht aus der Rolle des Weltpolizisten aussteigen. Good Cop oder Bad Cop, einer muss den Job machen.

Im Grunde war es egal, ob Obama weiter Präsident bleibt oder das Weiße Haus verlassen muss. Kennedy war der erste Katholik im höchsten Amt der USA, Obama der erste "Afroamerikaner". Romney wäre der erste Mormone gewesen. Bis es so weit war, galt es als undenkbar. Irgendwann werden die Amerikaner einen Juden und einen Moslem zum Präsidenten wählen. Oder eine Frau. Eine schwarze Lesbe, eine geschiedene Katholikin, eine ledige Muslima. Denn allem Geraune vom Niedergang zum Trotz sind die USA immer noch das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, so zerrissen, wie es sich für eine Demokratie gehört, und so einig, wie es eine Weltmacht sein muss, die ihre schützende Hand auch über diejenigen hält, die sie hassen und verachten. Das ist es, was die Größe dieses Landes ausmacht.

Dieser Artikel erschien zuerst in der deutschen Tageszeitung "Die Welt".