Kennen Sie zufällig den Asterix-Band "Der Seher"? Darin stiftet eine zwielichtige Figur namens Lügfix mit seinen Zukunftsprognosen Unfrieden in dem uns so wohlbekannten kleinen gallischen Dorf. Im Gegensatz zu Lügfix, der aus den toten Fischen von Verleihnix "liest", beruhen die Wahlprognosen von Nate Silver jedoch auf harten Fakten, Zahlen und Daten. Bei der US-Präsidentschaftswahl 2008 sagte er in 49 von 50 Bundesstaaten den Sieger richtig voraus. Dieser Erfolg verhalf ihm schlagartig zu großer Prominenz im Polit- und Medienbetrieb der USA, im April 2009 bezeichnete ihn das Nachrichtenmagazin Time als einen der 100 einflussreichsten Menschen der Welt.

Zahlen-Nerd und Baseball-Freak

Nathaniel Read Silver kommt am 13. Jänner 1978 in East Lansing (Michigan) zur Welt. Schon früh entdeckt Nate seine Liebe zu Zahlen – und zum Baseball: 1984 gewinnt sein Heimatteam, die Detroit Tigers, die World Series der Major League Baseball (MLB). 2000 schließt Silver sein Wirtschaftsstudium an der Universität von Chicago ab und heuert beim Consulting-Riesen KMPG als Berater an. 2009 wird er es als den größten Fehler seines Lebens bezeichnen, fast vier Jahre seines Lebens an einen ungeliebten Job vergeudet zu haben. Er kündigt schließlich im April 2004 und verdient sich kurzzeitig seinen Lebensunterhalt mit Online-Poker.

Schon zuvor hatte er seine lebenslange Leidenschaft für Zahlen und Baseball zu Geld gemacht. Der US-Sport liebt Statistiken, keine andere der vier großen US-Sportarten ("Majors") ist jedoch so zahlenverliebt wie Baseball. Für den europäischen Beobachter mag es ungewöhnlich erscheinen, doch in den USA entwickelte sich daraus eine eigene Wissenschaft: "Sabermetrics" ist das Stichwort, die Analyse von Baseball-Spielen und deren Akteuren mittels Zahlen und Statistiken. Darum geht es übrigens auch im heuer für sechs Oscars nominierten Film "Moneyball" mit Brad Pitt und Jonah Hill in den Hauptrollen.

Der Mathematik-Nerd Silver entwickelt ein Modell namens PECOTA, das die künftige Performance und Profi-Karriere von Pitchers (Werfern) und Hitters (Schlagmännern) anhand eines Vergleichs mit "ähnlichen" Spielern aus der Vergangenheit voraussagt. Silver verkauft PECOTA an ein Unternehmen namens Baseball Prospectus und arbeitet dort bis 2009 als Baseball-Analytiker.

Sensationelle Trefferquote

Im November 2007 beginnt Silver, auch über Politik und die beginnenden Primaries für die Präsidentschaftswahl 2008 zu schreiben, zunächst unter dem Pseudonym "Poblano" bei einem Polit-Blog namens Daily Kos. Im März 2008 startet er dann seinen eigenen Blog: FiveThirtyEight.com, angelehnt an die Zahl der Wahlmänner (538), die den US-Präsidenten wählen. Silver stützt seine Analysen und Prognosen auf Umfragen, bezieht aber auch demographische Daten und vergangene Wahlergebnisse mit ein. Im Mai 2008 enthüllt "Poblano" schließlich seine Identität, die Popularität von FiveThirtyEight.com nimmt indes rasant zu.

Der endgültige Durchbruch erfolgt dann in der Wahlnacht (4. November 2008): Silver sagt in 49 von 50 Bundesstaaten den Sieger richtig voraus, die Ausnahme ist Indiana, das knapp an Barack Obama geht. Zudem liegt er bei den Ergebnissen sämtlicher 35 Senatswahlen richtig. Im August 2010 übersiedelt Silvers Blog dann unter das Online-Dach der renommierten New York Times. Silver und seine Mitarbeiter beschäftigen sich vornehmlich mit innenpolitischen Themen, setzen sich aber auch mit Wahlen in Übersee (Großbritannien) und sportlichen Ereignissen auseinander. Erst kürzlich, am 27. September 2012, erschien übrigens Silvers erstes Buch: "The Signal and the Noise: Why Most Predictions Fail – But Some Don't". Der thematische Bogen reicht dabei von Hurrikan-Warnungen und Aktienmärkten bis hin zu Poker und Baseball.

Viel Feind, viel Ehr'

Für die Wahl am Dienstag gibt FiveThirtyEight.com Amtsinhaber Barack Obama eine Siegchance von 86,3 Prozent (Stand: Montag, 08:45). Laut Silvers Berechnungen würden 307,2 Wahlmänner auf Obama entfallen, 230,8 auf den republikanischen Herausforderer Mitt Romney. Auch in der "Popular Vote" (Gesamtstimmenanzahl) hätte der Demokrat mit 50,6 zu 48,5 Prozent knapp die Nase vorn. Silvers zahlengestützte Prognose: Obama würde im wichtigen Swing-State Ohio, aber auch in anderen Staaten in den Umfragen führen, hätte also größere Chancen, auf die für die Wiederwahl erforderliche Anzahl von 270 Wahlmännern zu kommen. So wären am Freitag (2.11.) 22 in Swing-States durchgeführte Umfragen veröffentlicht worden: In 19 sei Obama vorne gelegen, zwei hätten ein Unentschieden ergeben, nur bei einer war Romney vorn. Damit geht Silver also im Gegensatz zu vielen anderen Beobachtern und Experten nicht von einem engen Kopf-an-Kopf-Rennen aus.

Das bringt dem 34-Jährigen natürlich wiederholt den Vorwurf ein, sowieso für Obama zu sein, speziell natürlich von republikanischer Seite. Der ehemalige Kongressabgeordnete und heutige TV-Moderator bei MSNBC, Joe Scarborough, bezeichnete Silver kürzlich als "joke" (Witz) und als Ideologen. Silver kontert via Kurznachrichtendienst Twitter, indem er Scarborough eine nicht unumstrittene Wette anbietet: Bei einem Obama-Sieg müsse der konservative Moderator 1000 Dollar ans amerikanische Rote Kreuz spenden, bei einem Romney-Sieg werde er selbst bezahlen. Später erhöht Silver den Wetteinsatz auf 2000 Dollar. Ob Silver dann am Wahlabend Recht behalten wird oder nicht, wird sich weisen, das Ergebnis kann er jedenfalls mit Zahlen und Statistiken untermauern.