Das kleine Mädchen mit den zwei Zöpfen lächelt in die Kamera. "Da war ich sieben, da hab ich die Mama schon gepflegt", sagt Hanna Klinger. Die junge Frau hält das Foto in ihren Händen.
Als ihre Mama die Diagnose Multiple Sklerose (MS) bekommt, ist Hanna Klinger fünf Jahre alt. Die Ehe ihrer Eltern zerbricht zwei Jahre später, ihr Vater zieht aus, ihre neunjährige Schwester auch. "Wir waren auf uns allein gestellt, wir zwei", sagt die Niederösterreicherin.
Ihrer Mama geht es schnell schlechter. Sie braucht Krücken, dann einen Rollstuhl. Hanna ist zwölf Jahre alt, da kann ihre Mama nicht einmal mehr ihre Finger bewegen. Das Mädchen geht einkaufen, kocht, gibt ihrer Mutter zu essen. Sie übernimmt die Bankgeschäfte, kümmert sich um Arztbesuche, hilft ihrer Mutter, aufs Klo zu gehen. "Ich habe mich am Heimweg von der Schule immer so beeilt, dass ich schnell zu ihr komme. Weil ich so Angst gehabt habe, dass sie gestürzt ist." Immer wieder findet Hanna ihre Mutter am Boden liegend. Sie zerrt sie dann durchs Wohnzimmer, hievt sie auf die Bank hinauf. Sie fürchtet, dass sie etwas falsch macht. "Damit sollte man als Volksschulkind keine Erfahrung haben."
Video: Wenn Kinder ihre Eltern pflegen
Hohe Dunkelziffer
Junge Menschen, die ihre Angehörigen pflegen, sind in Österreich keine Einzelfälle. Allein von rund 43.000 Pflegenden unter 18 geht eine Studie der Uni Wien aus – wobei man mit einer hohen Dunkelziffer rechnet. "Young Carers" nennt man diese Kinder und Jugendlichen. Im Durchschnitt sind sie zwölf Jahre alt. Sie sind unsichtbar und werden oft allein gelassen.
Vielen wird erst später bewusst, dass sie junge Pflegende waren. So ging es Hanna Klinger. Sie kümmert sich um ihre Mama, bis sie 18 Jahre alt ist. Dann zieht sie nach Wien, "rutscht" ins Pflegestudium. Dort begreift sie, was sie geleistet hat – und immer noch leistet. "Die Verantwortung geht nie weg", sagt die 23-Jährige. Zwar hat ihre Mutter (52) inzwischen eine mobile Pflege, einmal die Woche fährt Hanna – die mittlerweile am AKH Wien arbeitet – aber immer noch zu ihr. Urlaub macht sie nie länger als zwei Wochen. "Ich will für meine Mama da sein und das werde ich auch immer. Aber es ist schwierig, weil man sich viele Sorgen macht. Es ist vielleicht so, wie wenn man ein Kind hat." Hanna und ihre Mama haben die Rollen getauscht.
Sofia zieht in ihren "Twenties" zu ihrem Papa zurück
Mehr als zwei Drittel der "Young Carers" sind Mädchen. Die jungen Pflegenden sind schwer zu fassen. Die kranke Mama, der kranke Papa oder die kranken Geschwister sind ein Tabuthema, weiß die Medizinethikerin Martina Schmidhuber von der Uni Graz. Mal verbieten die pflegebedürftigen Eltern den Kindern, über die Situation zu sprechen, mal schämen sich die Jungen und schweigen, mal überwiegt die Angst vorm Jugendamt.
In Österreich gab es bisher nur wenig Forschung zum Thema. Initiativen klagen über fehlende Förderungen. Die Politik hinkt im Vergleich zu Ländern wie Großbritannien mit Maßnahmen hinterher. Dort ist das Bewusstsein groß, dort wird seit den 1990ern geforscht. In Österreich fallen die Jungen durch alle Raster.
Die Betroffenen schrauben ihre Bedürfnisse zurück: Als andere ausziehen und ihre "Twenties" genießen, zieht Sofia Jüngling-Badia bei ihrem Vater ein und übernimmt gemeinsam mit ihrer Schwester die Erwachsenenvertretung. Herwig Jüngling ist dement und hat MS. Die Linzerin befestigt ihm gerade die Hosenträger in der Küche. "Wischst du dir bitte da noch mal drüber?" Dem 56-Jährigen tropft oft ein bisschen Speichel aus dem Mund.
"Sie leisten irrsinnig viel"
Unter der Woche kann er in ein Tageszentrum. Aber heute ist Sonntag, es geht los zum Spazieren, dorthin, wo man den besten Blick auf den Pöstlingberg hat. Da sagt Herwig Jüngling jedes Mal: "Ist das schön." Es sind immer dieselben Phrasen. Sofia muss sie schon mehr als eine Million Mal gehört haben. Man sieht ihr das ab und zu in ihrem Gesicht an. Sie bekommt dann so einen ernsten Ausdruck, schaut in die Ferne, so als ob sie gerade nicht anwesend wäre. "Es gibt in meinem Alltag sehr viele Situationen, die sehr viel sind", sagt die 25-Jährige. "Ich weiß, mein Leben würde sehr, sehr anders ausschauen, wenn es meinen Papa nicht gäbe." Sie wäre wahrscheinlich bei ihrem Partner in Australien.
Aber sie möchte für ihren Vater da sein. So wie die meisten jungen Pflegenden. "Sie leisten irrsinnig viel für das Pflegesystem und das ganz still und leise, dass es nicht einmal wahrgenommen wird", sagt Schmidhuber von der Uni Graz. "Und sie bekommen keine Unterstützung dafür." In einer Studie hat Schmidhuber mit ihrem Team herausgefunden, dass junge Pflegende sich auf lange Zeit gesehen zum Beispiel oft schwertun, Freundschaften zu knüpfen, ihr Helfersyndrom zu unterdrücken oder unbeschwert durchs Leben zu gehen.
So wie Chiara-Marie Müller aus Niederösterreich. Sie ist gerade 18 Jahre alt geworden. Sie ist sieben, als ihr Papa an Krebs erkrankt. Sie pflegt ihn mit. Mittlerweile ist er krebsfrei. Chiara-Marie blickt zurück auf eine etwas andere Jugend: "Ich habe auf vieles verzichtet. Vor allem, was Freunde betrifft, die sich jede Woche treffen. Das war halt einfach nicht drinnen, weil ich mich um den Papa kümmern wollte. Ich bin dann leider ziemlich schnell zur Außenseiterin geworden."
Kampagnen in sozialen Medien
Das Ministerium gibt an, sich seit "geraumer Zeit" mit "Young Carern" zu beschäftigen. Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne) betont, dass die Jungen "in der Öffentlichkeit sichtbarer werden müssen". Seit 2021 gibt es einen Aktionstag, eine App und eine Website mit Informationen. Die App wurde erst 1000-mal heruntergeladen. Chiara-Marie hat sie nicht einmal gekannt.
Alle drei jungen Frauen betonen, dass sie ihren Angehörigen helfen wollen. Aber sie wünschen sich mehr Unterstützung, dort, wo sie sie auch finden können, etwa in den sozialen Medien und in Schulen. Expertinnen wie Schmidhuber plädieren für mehr Forschung und Bewusstseinsbildung. "Young Carers" müssten gesehen werden, von Erwachsenen, von Pädagogen von Community-Nurses.
Außerdem wünschen sich Hanna, Sofia und Chiara-Marie Räume, in denen junge Pflegende durchschnaufen, nur Kind sein können. Die drei wollen andere junge Pflegende ermutigen. Sie wollen sich zeigen, mit den Tabus brechen. Hanna betont: "Wir können unsere Ängste überwinden, wir können unfassbar stolz auf uns sein."