Während eines Aufenthaltes in Genua lauschte Friedrich Nietzsche einem abendlichen Glockenspiel, das ihm auf eine eigentümliche Art „schauerlich“, „wehmütig“, ja „kindisch“ ins Ohr drang und ihn an den griechischen Philosophen Platon und dessen Bemerkung, dass nichts Sterbliches großen Ernstes würdig sei, denken ließ. Zu flüchtig, aber auch zu unsinnig, zu gehetzt, aber auch zu bedeutungslos schienen dem Philosophen die Taten und Untaten der Menschen, als dass es sich lohnte, ernsthaft darin nach unveränderlichen Wahrheiten zu suchen. Es bedarf gar nicht dieser metaphysischen Melancholie: Nietzsches Eindruck wird durch jeden aktuellen Medienhype bestätigt. All die Aufregungen und Empörungen, all die erbitterten Diskurse und Debatten unserer Tage, die so tun, als ginge es um alles, verpuffen rasch, werden wenig später nicht einmal mehr erinnert – schade um jede ernsthafte Überlegung, die daran verschwendet wird.

Manch einen mögen beim Klang der Silvesterglocken deshalb ähnliche Gedanken beschlichen haben. Die wehmütigen Rückblicke auf das vergangene Jahr ergaben kaum Erfreuliches, die Prognosen für das kommende sind eher schauerlich: Der grausame Krieg Russlands gegen die Ukraine will nicht enden, Asyl und Migration werden ungelöste Probleme der europäischen Gesellschaften bleiben, der Kampf gegen den Klimawandel wird lediglich ein Tropfen auf den heißen Stein sein, die Gesundheitssysteme und Pflegeeinrichtungen stehen vor dem Kollaps, die Energieversorgung scheint alles andere als gesichert und nicht nur die österreichische Verteidigungsministerin schwört die Bevölkerung auf ein mögliches Blackout ein, also auf das Schlimmste, was einer elektrifizierten Zivilisation zustoßen kann: Für Tage, womöglich Wochen senkte sich Finsternis über das Land, alle Räder stünden still, der Verkehr käme zum Erliegen, die Gefriertruhen tauten auf, die Akkus blieben leer, das Mobiltelefon gäbe keinen Laut von sich, die Streamingdienste und Internetplattformen verschwänden in einem schwarzen Loch.

Angesichts der gerne verkündeten Botschaft, dass Gewohntes und Vertrautes, Verbürgtes und Gewisses an Verbindlichkeit eingebüßt haben und wir uns auf ein Leben in neuen Unsicherheiten vorbereiten müssten, wirken die optimistisch getönten Neujahrsansprachen zunehmend unfreiwillig komisch, ebenso wie die Prognosen von meist technophilen Berufsoptimisten. Und wie kindisch erscheinen doch die Silvesterfeiern rund um den Globus, das Knallen der Sektkorken und Feuerwerkskörper, der unverdrossen zur Schau gestellte Glaube an eine lichtvolle Zukunft. Warum jeder Jahreswechsel dazu animiert, vom kommenden Jahr das Beste zu erwarten, während das vergangene, für das eben jenes auch prophezeit worden war, von Katastrophen gekennzeichnet war, entzieht sich jeder vernünftigen Begründung. Oder haben wir etwas übersehen? Drückt sich in den nächtlichen Illuminationen nicht ein Anspruch auf ein gutes Leben aus, der sich von den misslichen Verhältnissen nicht korrumpieren lassen will?

Seine defätistischen Assoziationen zum Klang der Glocken waren für Nietzsche so wichtig gewesen, dass er sie in seine Aphorismensammlung „Menschliches, Allzumenschliches“ aufnahm – jedoch mit einer kleinen, dramatischen, nachträglich vorgenommenen Veränderung. Nietzsche fügte seinen Notizen ein kleines, abschließendes Wörtchen hinzu: „… trotzdem – –“. In diesem Trotzdem, das durch zwei Gedankenstriche alles Weitere offenhält, liegt eine ungeheure Zuversicht, die nicht die platonische Wahrheit über die Flüchtigkeit der Welt leugnet, sondern ihr etwas entgegensetzt: den Willen zum und die Lust am Leben. Mit diesem Trotzdem wird ein fulminanter Einspruch erhoben gegen alle Versuche, den Menschen gering zu schätzen. Gegen die Lehre von der Belanglosigkeit des Daseins behauptet dieses Trotzdem, dass das kurze Leben der sterblichen Menschen sehr wohl einer ernsthaften Betrachtung würdig ist, auch wenn diese hin und wieder mit etwas Gelassenheit und einer milden Heiterkeit gepaart sein sollte.

Dieses Trotzdem verweist darauf, dass philosophische Wahrheiten nicht widerlegt, aber ignoriert werden können, dass alles Räsonnement über die Nichtigkeit des Daseins uns nicht davor bewahrt, es trotzdem immer wieder mit diesem zu versuchen. Das führt mitunter zu Konflikten, Widersprüchen und Ungereimtheiten sowie zu der unangenehmen Erfahrung, dass vieles, was nach den Vorgaben einer Theorie oder politischen Ideologie gar nicht sein dürfte, einfach existiert. In diesem Trotzdem artikuliert sich eine riskante Freiheit, die manchen ein Ärgernis ist.

Es fehlt unserer Zeit in vielen Belangen an solch einem Trotzdem. Wir wollen alles glatt, eindeutig, am liebsten wäre uns, es gäbe nur die eine, die richtige Seite. Was an aktuellen Diskursen so stört, ist ja der Versuch, so zu tun, als könnte alles ganz einfach gelingen, wenn man die richtige Moral, die richtigen Worte, die richtigen Politiker, den richtigen Elektromotor, den richtigen Blick auf die Verbrechen der Vergangenheit und den richtigen Schuldigen, dem alles in die Schuhe geschoben werden kann, hätte. Ein Trotzdem respektiert schmerzhafte Einsichten und setzt diesen dennoch etwas entgegen.

Denken wir an die mitunter nur noch in einem anklagenden Ton geschriebene Geschichte der westlichen Zivilisation.  Es geht nicht darum, irgendetwas von den Fehlern und verhängnisvollen Entwicklungen, die etwa Industrialisierung und Kolonialismus mit sich gebracht haben, zu beschönigen oder gar zu leugnen. Doch selbst hier gibt es ein Trotzdem. Denn auf denselben Voraussetzungen wie Ausbeutung, Sklaverei und Umweltzerstörung beruhen die Formulierung der Menschenrechte, die Vorstellung von Freiheit und Selbstbestimmung, die Fortschritte in Wissenschaft, Medizin und Technik, die Entfesselung der Produktivkräfte, die es heute Milliarden Menschen erlauben, besser, gesünder und länger zu leben als der Großteil der Erdbevölkerung vor zwei Jahrhunderten.

Die Kraft, trotz allem zu leben und das Leben zu feiern, wird nicht aus einer reinen Schuld- und Zerknirschungskultur erwachsen. Es bedarf einer angemessenen Würdigung der Leistungen der okzidentalen Gesellschaften und der Möglichkeiten, die sie bei allen selbstkritischen Vorbehalten freisetzen können. Ohne Rückgriff auf deren Errungenschaften, ohne Aufklärung und Demokratie, ohne Rationalität und Erfindungsreichtum, ohne universalistisches Denken werden wir weder den Klimawandel noch die sozialen Spannungen in den Griff bekommen.

Natürlich soll man sich auch zum Jahreswechsel nichts vormachen. Den Zustand der Welt mit den ständig gleichen Phrasen und Euphemismen zu beschönigen, trägt so wenig zur Lösung unserer Probleme bei wie eine spektakulär herbeidemonstrierte Apokalypse. Da es keine einfachen Lösungen für unsere Fragen gibt, sollte man diejenigen nicht verachten, die scheitern. Es geht nicht um apodiktische Wahrheiten. Es geht nicht um Erlösung. Es geht nicht um das Heil. Es geht darum, etwas zu versuchen, von dem wir nicht wissen, ob es sich im Nachhinein nicht als Irrtum oder Fehler erweisen wird.

Solch eine Zurückhaltung ist schwer auszuhalten. Menschen sind jedoch keine vollkommenen Wesen, und nach Vollkommenheit zu streben, hat stets zu Tyrannei, Totalitarismus und Massenmord geführt. Unsere Chance liegt in einem trotzigen Ja zum Leben in all seiner Ambivalenz, Unzulänglichkeit und Vorläufigkeit. Leben lebt im Widerstand gegen die vermeintlichen Wahrheiten und vorschnellen Überzeugungen einer Zeit, ja gegen die Fährnisse und Wirrungen des Lebens selbst. Menschsein bedeutet, allen Widrigkeiten, mögen sie noch so übermächtig erscheinen, ein großes Trotzdem entgegenzuhalten. Darin liegt all unsere Würde, all unsere Hoffnung.