ARMIN THURNHER: Ich trinke gern Wein, bin aber weit von dem entfernt, was man einen Weinkenner nennt. Trotz meiner gesammelten Anzahl von Jahren, der einzigen Sammlung, die sich mit steigendem Wachstum entwertet, bin ich noch immer nicht imstande, die guten von den schlechten Jahrgängen zu trennen. Ein Jahr, in dem ein Krieg begann, der die Bestialitäten des Ersten Weltkriegs, wie den Stellungskrieg, mit den Segnungen der neuesten Technik, wie den Drohnen, verbindet, wird man aber wohl zu den schlechten Jahren rechnen müssen.
MICHAEL FLEISCHHACKER: Wenn es je so etwas wie Standards für gute oder schlechte Jahre geben wird, wird man 2022 mit Blick auf die Jahre vor 2022 zu den schlechten zählen, davon bin ich überzeugt. Allerdings wird man 2032 mit großer Wahrscheinlichkeit auch sagen, dass es bis 2022 eigentlich noch einigermaßen erträglich war und die wirkliche Katastrophe erst dann anfing. Dieses scheußliche Jahr wird also für lange Zeit das beste gewesen sein.
ARMIN THURNHER: Das nennt man einen optimistischen Beginn! Ich habe das "trotzdem" in der Fragestellung nicht überhört. War es trotzdem ein gutes Jahr? Wir können ja versuchen, außer Ihrer zweckpessimistischen Prognose und außer der Aufzählung dessen, was dieses trotzdem meint, noch andere Dinge zu finden, die für dieses Jahr sprechen. Bei allen Verlusten fällt einem da wirklich wenig ein, außer vielleicht Brot und Spielen, mit denen man uns seit Jahrtausenden über die Katastrophen hilft: Messi zum Beispiel, der geniale, königliche Floh.
MICHAEL FLEISCHHACKER: Oh, Sie haben die WM auch nicht boykottiert? Ich hoffe, Sie haben wenigstens für jedes gesehene Spiel etwas an eine karitative Organisation gespendet, so wie die Kinder der absurden deutschen Ethikrats-Vorsitzenden Buyx, die jetzt allen Ernstes erklärt, man habe in der Pandemie zu wenig auf die Kinder geschaut, nachdem sie in der Pandemie erklärt hatte, Hausarrest und Impfpflicht für alle sei ethisch nicht nur gerechtfertigt, sondern sogar geboten. Aber Sie haben recht, suchen wir nach dem "trotzdem". Dass das Wiener Medienwesen sich entschlossen hat, sich zur Gänze als gebührenfreie Realsatire zu präsentieren, finde ich zum Beispiel unter Unterhaltungsgesichtspunkten anerkennenswert. So interessant war das "profil" seit Jahren nicht.
ARMIN THURNHER: Sagen wir so: Ich habe die WM insofern boykottiert, als ich mir alle lichtvollen öffentlichen Erläuterungen dazu gespart habe; aber, und das habe ich auch öffentlich erklärt, ich habe kein einziges Spiel versäumt. Das Finale entschädigte für fast alles, seine katarischen Peinlichkeiten inklusive, vom Schleier des Emirs, den dieser Messi umlegte, bis zum zarten Flor der internationalen Kotzbrocken-Prominenz namens Elon Musk und Jared Kushner, zu der sich diskret auch ein gewisser Sebastian Kurz gesellte, der bekanntlich zu den zartesten Trotzdems gehört, seit es Einwände gibt. Ich bekenne, dass ich mich über den fortgesetzten Niedergang des erwähnten Nachrichtenmagazins nicht freue, obwohl die Konkurrenz, die ich herausgeben darf, davon profitiert. Das "Wiener Medienwesen" hingegen erstreckt sich bekanntlich bis zum Bodensee (das tat es schon immer, aber es wurde erst neuerdings bekannt).
MICHAEL FLEISCHHACKER: Ich habe nicht alle Spiele gesehen, weil ich immer wieder auch dem Broterwerb nachgehen muss, aber ich habe das Viertel- und Achtelfinale in Marokko erlebt, und das war sehr großartig. Dort wäre auch keiner auf die Idee gekommen, dass Messi zur Propaganda-Bitch des Emirs geworden wäre, weil er den Mantel nicht abgeschüttelt hat, den jener ihm umlegte. Ich mache mir über die Rolle Katars in der Welt keine Illusionen und hatte sogar das zweifelhafte Vergnügen, Teile der "Qatar-Papers" einzusehen, aber: Alle Araber haben verstanden, dass Messi so als "König des Fußballs" ausgezeichnet werden sollte. Warum können wir das nicht verstehen? Einig sind wir uns aber darin, dass dieses WM-Endspiel zu den besten zwei Stunden des Jahres gehörte und dann auch noch richtig ausgegangen ist.
ARMIN THURNHER: Ja. Und nein, Messi hat das eh richtig gemacht, aber der Emir nicht. Wäre das Ganze in Österreich passiert, und der Kanzler hätte dem Kleinen einen Habsburger-Hermelin umgehängt oder einen Trachtenhut aufgesetzt, hätten wir es auch nicht goutiert. Jedenfalls war es ein Festival der kreativen Spielkunst, in jeder Hinsicht. Katarisches Spielgeld wurde neuerdings ja in der EU säckeweise sichtbar. Die Art, in der man heute mit Menschen spielt, ist in der Polykrise wieder ein Stück von dem abgerückt, was man dratie nannte. Auch das gehört wohl zu diesem Jahr.
MICHAEL FLEISCHHACKER: Als man Pelé in Mexiko einen Sombrero aufsetzte, fand das keiner seltsam, und außer Ihnen und noch einigen besonders Sensiblen, hätte auch keiner ein Problem damit, wenn Herr Messi am Ende der Österreich-WM einen Schladminger-Janker umgehängt bekäme. Aber seit wir dazu übergegangen sind, das, was im 17. Jahrhundert passierte, mit den Maßstäben von heute zu beurteilen, darf einen nicht wundern, dass der Österreicher beurteilt, was in Katar und Timbuktu kulturell geht und was nicht.
ARMIN THURNHER: Wollen wir uns nicht festjankern. Der Vormarsch dessen, was man Identitätspolitik nennt, lässt sich nicht leugnen. Ebenso wenig aber der Vormarsch dessen, was man Bestialität nennen kann, von der Unterdrückung der Frauen in Afghanistan bis zum Bombardieren der Zivilbevölkerung in der Ukraine, vom Blutvergießen im Iran bis zum inhumanen Snobismus der englischen konservativen Eliten, die das öffentliche Gesundheitssystem vernichten. Hierzulande hat die Bestialität ja meist den freundlichen Anschein von Dackelhaftigkeit (Pardon, echte Dackel), was auch nicht immer tröstet.
MICHAEL FLEISCHHACKER: Ich glaube, man kann zusammenfassend sagen, dass wir das Gute zunehmend nur noch im Privaten konstatieren können, im Öffentlichen blättert gerade der Firnis der Zivilisation vom Leviathan. Die Welt, wie sie ist, kommt mir immer mehr vor wie eine überdimensionierte Einladungskarte für die Dauerausstellung des Eskapismus im Seelenmuseum.
ARMIN THURNHER: Ja, aber wie wir vom Schöpfer des Begriffs Leviathan wissen, vom Herrn Hobbes, bleibt uns nichts anderes übrig, als uns zu Verträgen zu verbünden, er würde sagen, um unseren Hals, ich würde sagen, um die Demokratie zu retten. Großes Wort, ich weiß, aber dass die Möglichkeiten dazu spärlicher werden, könnte vielleicht unsere Energie verdoppeln. Dann bekämen die Krisen doch noch so etwas wie Sinn. Die Hoffnung darauf mag ich nicht aufgeben. Trotzdem.
MICHAEL FLEISCHHACKER: Ich schätze Ihren Optimismus, kann ihn aber nicht teilen, weil mir derzeit die selbsternannten Retter der Demokratie mindestens so großes Unbehagen bereiten wie ihre angeblichen Bedroher. Was bleibt, ist vielleicht die Kultivierung eines heiteren Pessimismus.