Ursprünglich war es wohl amerikanische Sitte, Weihnachtsmärkte das ganze Jahr über offenzuhalten, so, als ob ganzjährig das Weihnachtsfest vor der Tür stünde. Der gleichsam übers ganze Jahr verteilte Advent hat sich als lukratives Modell erwiesen, das auch in Europa zunehmend heimisch wurde. Der Christ, der noch am Mythos hängt, wenn auch nur mehr in einem Netz, das aus vielerlei weltlichen Fäden gesponnen ist, wendet sich mit Grauen ab: Was hier stattfindet, ist eine Travestie der mythischen Zeit. Die liturgische Wiederholung hingegen ist fundamental, kein Geschäftsmodell mit Ladenschlusszeiten.
Adventus Domini, die Ankunft des Erlösers – das Warten sollte, der älteren Überlieferung nach, vom Sündenfall bis zur Menschwerdung Gottes 4000 Jahre währen. Für die Westkirche legte daher Gregor I., von 590 bis 604 Papst in Rom, bindend fest, der christliche Advent, die Zeit des Wartens auf die Geburt des Herrn, solle vier Wochen dauern. Es ist eine mythische Zeit, die so, Jahr für Jahr, vergeht. Vier Wochen für viertausend Jahre. Der Mythos ist der Mittler zwischen dem Begreiflichen – dem Naheliegenden, Vor-Augen-Stehenden – und dem Unbegreiflichen.
Indem die einfachen Dinge der Welt in den Bannkreis des Mythos eintreten, verändert sich ihre Position in der Zeit. Sie werden ewigkeitsbedeutsam. Sie werden unsterblich, noch bevor das Ereignis, Jesu Geburt, von den Menschen die Last des ewigen Todes nehmen wird. Vorerst wird der körperliche Tod nicht überwunden sein, auch dem Sohn Gottes steht das Kreuz bevor; aber die Einlösung des Versprechens ist im Gange: die Wiedereinsetzung in die Unsterblichkeit, auch die Rückerstattung des Leibes.
Mit der Geburt des Menschensohnes aus dem „gebenedeiten Schoß“ Mariens geht das heilsgeschichtliche Drama seinem Ende entgegen, bis sich die Gräber öffnen und die Leiber der dann ewig bei Gott Aufgenommenen in einem Neuen Jerusalem wandeln werden. Und wie stets im Mythos drängt die Erzählung darauf, immer wieder erzählt zu werden, um den Bann – das Band zwischen dem irdischen Lauf der Dinge und ihrer überirdischen Wandlung – nicht zu zerbrechen. Doch zugleich ist der Mythos, zumal der große, Menschheitsepochen überdauernde Mythos, vielfältig gewoben und in ständigem Wandel. Es gibt nicht die eine und einzig wahre Erzählung.
Das Geheimnis ist absolut. Deshalb erschaffen wir uns die Religionen: nicht, um uns vorzutäuschen, dass wir sehend wären, sondern um uns damit zu beruhigen, dass wir wissen, worin unsere Lebensblindheit besteht. Dafür nehmen wir fast alles in Kauf, zuallererst die Kapitulation unserer Vernunft, die fortan als eitel gilt. „Credo quia absurdum est.“ Ich glaube, weil es absurd ist. Das müsste uns zutiefst beunruhigen. Wir hoffen aber, dass uns aus dieser Beunruhigung eine Beruhigung erwächst: Wir haben vor dem Absoluten kapituliert, weshalb sollten wir uns dann noch beunruhigen?
Der Gläubige murmelt: „Herr, ich habe mich in deine Hände begeben, mach mit mir, was du willst!“ Doch das „Ich glaube, weil es absurd ist“ macht unsere Vernunft wild, und nicht nur unsere Vernunft – unser Gefühlsleben verwildert unter dem Druck der Irrationalität, das heißt, der selbstauferlegten Pflicht zur Irrationalität. Es sagt sich leicht: „Man betet im Staub oder gar nicht“, aber der Beter im Staub ringt nach Luft, er durchleidet eine geistige Panikattacke nach der anderen, bis er erstickt oder den Staub verflucht, während er nach dem verdunkelten Licht der Ratio schnappt. Das ist die Folge des Starrens auf das Unvermeidliche – eines inneren Starrens der überspannten Vorstellungskraft –, wodurch ein freudvolles Leben, das sich, bei aller Umsicht für andere, doch auch mit sich selbst begnügt, unmöglich wird.
Es gibt Mythen, welche in die irdische Zeit einen Zyklus „hin-einerzählen“, der die Dinge, die im Alltag ihren Lauf nehmen, heils- und offenbarungsgeschichtlich verortet. Tod und Geburt werden zu Ereignissen, die, mögen sie im Leben nur ein Mal stattfinden, auf einer anderen – höheren – Ebene in einen Ewigkeitshorizont einrücken. Es ist die über die Zeiten hin wiederkehrende Aufgabe der Priester, den Zorn der Götter zu mildern, die Götter und Göttinnen zu erfreuen.
Das Warten, das damit einhergeht – warten darauf, dass die Sonne nicht zur Erde fällt, warten darauf, dass der nächste Sommer eine gute Ernte erbringt –, hat etwas von jener Hoffnungslosigkeit an sich, welche die wüstesten Opferrituale hervortreibt. Nichts kann jemals zum Abschluss gebracht werden. Immer wieder muss Blut fließen, immer wieder müssen zuckende Herzen dem Himmel entgegengestreckt werden. Deshalb kennen viele Religionen die reinigende Katastrophe. In einem alles hinwegfegenden Feuersturm wird ein Schlusspunkt gesetzt, der auch noch die alten Götter mitumfasst: Götterdämmerung.
Im christlichen Denken und Fühlen hat die mythische Zeit dem Warten eine andere Signatur aufgeprägt. Nach dem Endzeitfieber unter den frühen Christen, welche das Ende aller Dinge als das Allernächste fantasierten, hat sich der Glaube in einer zweideutigen Lage eingerichtet. Das Ende der Welt ist nicht gekommen, auch nach Tausenden von Jahren nicht. Wir leben auf der alten Erde und wir wissen, dass eines Tages das Warten auf dem dann unbewohnbar gewordenen Planeten ein natürliches Ende finden wird. Aber unser Wissen ist und bleibt „vorbehaltlich“. Was uns die moderne Kosmologie und ihre Auffassung von Zeit lehren, ist – in einem höheren Sinne – eingebettet in das Zeitbewusstsein des Mythos.
Der Untergang der weltlichen Dinge im Feuersturm Gottes ist bis auf Weiteres verschoben. Unser immer wiederkehrendes Warten im Advent ist eines darauf, dass der Mensch durch den Geist erneuert wird. Es ist aber keines, welches sich in der Erfüllung des geistlichen Jahres erschöpfte. Denn es ist ein Warten, das in der irdischen Zeit bloß wie vor einer Kulisse, einem wehenden Vorhang stattfindet. Weicht der Vorhang zurück, dann erst sehen wir, dass immer schon alles geschehen ist. Deshalb Franz Kafkas Diktum, wir hätten, obwohl die Vertreibung aus dem Paradies endgültig sei, dieses – vom Standpunkt der Ewigkeit aus – niemals verlassen.
Wie tief wir in die profane Zeit eingetaucht sein mögen, wir sind immer auch Bewohner einer „anderen Welt“, worin gilt: von Ewigkeit zu Ewigkeit. Das Warten auf den Erlöser ist – für das gläubige Herz – die innigste Freude darüber, dass der Vorhang vor unseren müden Augen und tristen Alltagssachen zurückweicht und uns gezeigt wird: „Ihr seid immer schon geborgen“, freilich – das irdische Jammertal durchschreitend – geborgen im Schlechten. Der Jammer und das Böse, sie sind nicht die letzte, die ganze Wahrheit.
Von dieser Wahrheit kündet der Stern überm Stall, der den Heiligen Drei Königen, Ewigkeitsgestalten aus dem „Morgenland“, den Weg weist. Erlösung findet nicht statt, Erlösung ist. Nur sind unsere Sinne zu schwach, zu wehleidig, um im erlösten Sein der Dinge zu verweilen. Doch einmal im Jahr treten wir unter den Glanz des Sterns über dem Stall – und mit uns alles, was ist, war und sein wird.
Peter Strasser