Ein tschetschenisch stämmiges Brüderpaar - der eine ein 23 Jahre alter Student, der andere ein 19 Jahre alter Gymnasiast - ist am Mittwoch wegen der gewaltsamen Entführung ihrer Schwester vom Wiener Landesgericht zur Verantwortung gezogen worden. Die 21-Jährige war wegen familiärer Schwierigkeiten in den Pinzgau gezogen, wo sie sich eine neue Identität zulegte.
Traditionelle Wertvorstellungen
Die Geschwister haben zwar tschetschenische Wurzeln, wuchsen aber allesamt in Österreich auf. Zuletzt lebten sie mit ihren Eltern in einer Wohnung in Wien-Neubau, die weiter die traditionellen Wertvorstellungen hochhielten, welche sie mit ihrer alten Heimat verbanden. Das bekam vor allem die Tochter zu spüren. Sie durfte sich nicht so kleiden, wie sie wollte, musste beispielsweise Röcke tragen, die ihre Knie bedecken. Ihre Mutter durchforstete auch ihr Handy, weil sie Männerbekanntschaften befürchtete. Als die 21-Jährige im Mai 2018 ihre Mutter bei einem derartigen Kontrollversuch erwischte, reagierte sie ungehalten. Darauf kassierte sie vom ältesten Bruder Schläge.
Weil sie sich zusehends eingeengt fühlte und weil sie vor allem ahnte, dass ihre Angehörigen ihren neuen Freund - einen gebürtigen Österreicher - nicht tolerieren würde, verließ die junge Frau in weiterer Folge ihren Familienverband. Sie setzte sich in den Pinzgau ab, wo sie sich eine neue Existenz aufbaute. Sie ließ eine Namensänderung durchführen, änderte ihre Sozialversicherungsnummer, suchte sich einen Job und fand mit ihrem Freund eine Wohnung in Saalfelden. Ihrer Familie schrieb sie einen Brief, mit dem sie mitteilte, sie wäre vergewaltigt worden. Mit dieser inhaltlich unrichtigen Behauptung erhoffte sich die 21-Jährige, von ihrer Familie verstoßen und zukünftig in Ruhe gelassen zu werden.
Brüder kamen Schwester auf die Spur
Diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Speziell der jüngere Bruder ließ nichts unversucht, um der verschwundenen Schwester auf die Spur zu kommen. Über einen Freund kam er in Kontakt zu einem Mädchen, das als Lehrling bei einer Studienbeihilfenbehörde beschäftigt war. Diese führte auf Drängen des 19-Jährigen eine Anfrage im Zentralen Melderegister durch, fand so die Anschrift der 21-Jährigen heraus und gab diese trotz einer Auskunftssperre weiter.
Nachdem die Brüder Anfang August eine erste Fahrt nach Saalfelden unternommen und die Wohnung der Schwester gefunden hatten, wollten sie diese am 27. August mit Gewalt nach Wien zurückbringen. Ein 27-jähriger Freund chauffierte sie mit seinem Auto nach Salzburg, wo sie die Schwester vor ihrer neuen Bleibe abpassten. Als diese sich auf den Weg zur Fahrschule machte, wo sie einen Führerschein-Kurs belegt hatte, sprangen die Brüder aus dem Fahrzeug, bemächtigten sich der 21-Jährigen, schleppten sie zum Auto und legten sie ungeachtet ihrer Gegenwehr und ihrer Hilfeschreie auf den Rücksitz, während der 27-Jährige aufs Gaspedal trat und Kurs Richtung Bundeshauptstadt nahm.
"Ihr wollt mich umbringen, ihr wollt mich umbringen", rief die entführte Schwester. Das hätten ihre Brüder mit dem Worten "Nein, wir tun dir nix, wir bringen dich nach Hause" dementiert, erzählte sie später in einer kontradiktorischen Einvernahme, die auf einer DVD aufgezeichnet und nun im Gerichtssaal abgespielt wurde. Damit wurde der 21-Jährigen ein Auftritt als Zeugin erspart.
Nachbarinnen riefen die Polizei
Die Entführung hatten zwei Frauen in der Nachbarschaft mitbekommen, die umgehend die Polizei verständigten. Die 21-Jährige wurde schließlich von Beamten der Sondereinheit Wega aus der elterlichen Wohnung befreit, wo sie neuneinhalb Stunden gegen ihren Willen festgehalten worden war. Ihre Brüder sowie der Fahrer wurden festgenommen.
Die drei Männer zeigten sich nun vor einem Schöffensenat (Vorsitz: Daniela Zwangsleitner) umfassend geständig. "Alles stimmt, was in der Anklage steht", sagte der ältere Bruder. Er habe "nie erwartet, dass ich zu so etwas fähig sein werde. Ich schäme mich dafür". "Ich hab' mich bei meiner Schwester entschuldigt", meinte der Jüngere. Auf die Frage der Richterin, weshalb man "so etwas" mache, erwiderte der 19-Jährige: "Weil man seine Schwester zurückhaben will. Ich bin zu emotional geworden." Darüber hinaus wollten die beiden Brüder nichts mehr sagen. Sie seien "zu nervös, um eine Aussage zu machen", stellten sie unisono fest.
Der mitangeklagte 27-Jährige versicherte, er hätte vor Antritt der Fahrt nichts von den Plänen seiner Freunde gewusst. Schuldig bekannte sich auch das Mädchen, das die geheime Adresse der Schwester preisgegeben hatte. Sie habe sich nichts dabei gedacht, ihr sei erklärt worden, dass "nichts Schlimmes" passieren wird. Interessanterweise hat das Mädchen die Lehrstelle bei der Studienbeihilfenbehörde trotz des Vorwurfs des Amtsmissbrauchs nicht verloren. Sie darf ihre Lehre abschließen, wird allerdings danach nicht übernommen.
Am Ende wurden die Brüder und ihre Fahrer wegen Freiheitsentziehung und schwerer Nötigung jeweils zu zwei Jahren Haft, davon acht Monate unbedingt verurteilt. Nach Rücksprache mit ihren Verteidigern Nikolaus Rast und Alexander Philipp nahmen sie die Strafen an. Der Staatsanwalt gab vorerst keine Erklärung ab. Das Mädchen wurde des Amtsmissbrauchs für schuldig befunden, kam jedoch ohne Ausspruch einer Strafe davon. Der Senat legte eine zweijährige Probezeit fest, innerhalb der sich der Teenager nichts zuschulden kommen lassen darf. Sämtliche Urteile sind nicht rechtskräftig.