Im folgenden Text sollen zwei falsche Mythen über den Beginn der Ersten Republik dekonstruiert werden: Der erste betrifft die These einer Stunde null, das heißt, dass die breite Palette an sozialen Reformgesetzen erst durch die „österreichische Revolution“ aus dem Nichts entwickelt worden wäre. Der zweite Mythos rankt sich um die Sozialpartnerschaft und eine funktionierende Große Koalition zwischen den beiden großen Massenparteien, den Christlichsozialen und Sozialdemokraten, die meist erst auf die Zeit nach 1945 zwischen ÖVP und SPÖ projiziert wird.
Zu Recht hat jüngst Pieter Judson in seiner Studie „The Habsburg Empire: A New History“ (2016) auf die kulturelle und administrative Stärke Cisleithaniens und der Habsburgermonarchie im Allgemeinen hingewiesen. Dies war dann die Basis für die rasche Reformkonjunktur nach der Ernennung des sozialdemokratischen Textilarbeitergewerkschafters Ferdinand Hanusch als Nachfolger Ignaz Seipels zum ersten republikanischen Staatssekretär für soziale Fürsorge. Vom ersten Moment an konnte er sich auf eine innovative und erfahrene „imperiale“ Bürokratie stützen und war umgeben von einem hochkarätigen Thinktank.
Zu dieser gewachsenen Expertise im sozialrechtlichen und sozialpolitischen Bereich kam die langjährige politische Erfahrung von Ferdinand Hanusch selbst, einem ehemaligen Webergesellen aus ärmlichen Verhältnissen in Schlesien. Er war seit 1891 in der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung aktiv und hatte bereits seit Jahrzehnten die Einführung des Achtstundentages, Abschaffung der Arbeitsbücher und viele andere sozialpolitische Reformgesetze gefordert. Dass es dann – zuerst ab 30. Oktober 1918 in der Konzentrationsregierung unter Staatskanzler Karl Renner mit Christlichsozialen, Sozialdemokraten und Großdeutschen und dann von 15. März 1919 bis 7. Juli 1920 in zwei Koalitionen von Sozialdemokraten und Christlichsozialen – gelang, diesen sozialgesetzlichen Reformschub umzusetzen, ist natürlich auch den internationalen Entwicklungen und der Angst vor einem Räteregime bzw. einer kommunistischen Revolution wie in Russland 1917 geschuldet.
Ferdinand Hanusch selbst meinte 1919: „Wenn wir vor dem Äußersten bewahrt bleiben wollen, mussten wir in erster Linie bei der Arbeiterschaft das Vertrauen erwecken, daß dieser Staat ein anderer ist als der alte. [...] Die Opfer, die die Industrie bringen muß, fallen gegenüber den Milliardenschäden, die ein Tag Revolution in einer Großstadt bedeutet, nicht sehr in die Waagschale.“ Gleichzeitig war sich Hanusch bewusst, dass soziale Reformen nicht zu einem sozialistischen Staat führen werden. Innerhalb der Christlichsozialen Partei setzte sich überdies der Arbeitnehmerflügel in dieser ersten Phase durch, und bei den Arbeitgebervertretern begann zwischen 1917/1918 und 1920 auch eine intensive erste Phase der Sozialpartnerschaft in Verhandlungen mit Gewerkschaftsvertretern und Reichsratsabgeordneten bzw. später Nationalratsabgeordneten.
Nach der Errichtung des Generalkommissariats für Kriegs- und Übergangswirtschaft im Jahr 1917 wurde bereits ein Hauptausschuss eingerichtet, dem unter anderem Vertreter der Industrie, der Gewerkschaften und Krankenkassen angehörten. Es war der Arbeitsausschuss dieses Hauptausschusses, der auf Antrag des sozialdemokratischen Reichsratsabgeordneten Jakob Reumann in der Folge bereits Ende September 1918 die Einsetzung einer paritätischen Industriekommission vorbereitete. Darin wurden dann zahlreiche Gesetzesentwürfe beraten – zum Beispiel 1919 vom Gesetz über den Urlaub von Arbeitern bis zum Betriebsrätegesetz.
Eine wichtige Kommunikationsschiene zwischen Hanusch und der Privatindustrie lief über die Freimaurer-Loge „Lessing zu den drei Ringen“. Die ersten Maßnahmen betrafen die großen Probleme der Kriegsheimkehrer und der steigenden Arbeitslosenheere. Trotz Kritik seitens der Unternehmer wurden zwei Mal die Arbeitslosenunterstützungen erhöht. Besonders hervorzuheben sind zwei Gesetze: das Gesetz über den achtstündigen Arbeitstag und das Betriebsrätegesetz.
Letzteres sollte aus der Sicht der sozialdemokratischen Führungspersönlichkeit Otto Bauer auch Teil einer Ausbildungsinitiative werden, um den Betriebsräten – und auch den Arbeitern – Einblick in die Produktions- und Verkaufsmechanismen zu verschaffen, um damit dann auch das Personal für sozialisierte Unternehmen zu schaffen. Doch letztlich scheiterte das Sozialisierungsprojekt am Widerstand der Christlichsozialen Partei, und es blieben die Kernaufgaben der Betriebsräte, Beratung und Schutz der Arbeitnehmer, übrig. Heute nehmen jedoch in Österreich Unternehmensbetriebsräte eine wichtige Rolle in den Aufsichtsräten von Aktiengesellschaften ein.
Das dritte wegweisende Gesetz betraf die Errichtung der Arbeiterkammern – fast am gleichen Tag mit dem Handelskammergesetz vom 26. Februar 1920 beschlossen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Sozialdemokratie unter Otto Bauer bereits entschlossen, die Koalition zu beenden, da weitere Maßnahmen wie die Vermögenssteuer oder die Getreidebewirtschaftung nicht mehr machbar schienen und auch der Druck der Basis zum Koalitionsende größer wurde. Doch sollten noch rasch einige Maßnahmen paktiert bzw. umgesetzt werden. Dazu gehörte auch die Verordnung über den Dienstvertrag der Hausgehilfinnen und über die Arbeitsverhältnisse einzelner Arbeiterkategorien (Gastgewerbe, Rechtsanwaltskanzleien) sowie vor allem das Arbeitslosenversicherungsgesetz vom 24. März 1920.
Nach dem Scheitern der Fortsetzung der ersten Großen Koalition wurde zwar seitens der christlichsozial dominierten Koalitionsregierungen immer wieder das Wegräumen des „revolutionären Schutts“ (Ignaz Seipel am 29. Februar 1924) propagiert, aber letztlich doch nicht umfassend durchgeführt – trotz zahlreicher Reduktionen und Verschlechterungen. Noch immer wirkte die Angst vor revolutionären Entwicklungen nach, obwohl sie ab 1920 deutlich nachgelassen hatte.
Oliver Rathkolb