Als am 12. November 1918 von der Rampe des Reichsratsgebäudes der Bevölkerung die eben beschlossene Gründung der Republik bekannt gegeben wurde, war das Erbe der untergegangenen Monarchie unübersehbar. Die verkrüppelten Angehörigen der geschlagenen Armee, die Witwen und Waisen der Gefallenen, die von Hunger und Entbehrung gezeichneten Menschen trauerten nicht um jenen Staat, der in der explosiven Stimmung des Sommers 1914 den entscheidenden Funkenschlag für den Kriegsausbruch geliefert hatte.
In die markanten Gebäude des alten Staates zogen die Institutionen der Republik, das hofärarische Geschirr mit seinen Doppeladlern am Tellerrand und den Besteckgriffen diente der Repräsentation der Republik über alle Brüche des 20. Jahrhunderts hinweg. Die neue Hofburg, deren Innenausbau stecken geblieben war, wurde fertiggestellt. Als man begann, dem sich zunächst selbst durch die Anschlusserklärung in Frage stellenden neuen Staat eine offiziell stimmige Identität zu geben, griff man zögerlich auch auf imperiale Versatzstücke zurück.
Neben den in den Landestraditionen verhafteten Relikten – die Babenberger in Niederösterreich, den Erzherzog Johann in der Steiermark, den Andreas-Hofer-Kult in Tirol – entdeckte man als säkulare Alma Mater Austriae Maria Theresia neu. Vielfach blieb das Bild des gütigen Kaisers Franz Joseph in den Köpfen gerade jener, die seine Herrschaft mit der Gleichstellung aller Menschen in ihren Rechten, mit der Modernisierung des Staates und mit der relativ langen Friedenszeit ab 1866 gleichsetzten.
Als Erbe des alten Österreich muss der den politischen Parteien und deren Anhängerschaft innewohnende Antiliberalismus, Antisemitismus, Deutschnationalismus, Neigung zu Zentralismus und bürokratischer Staatsführung bei aller Binnendifferenzierung gelesen werden. Politischer Katholizismus und sein Gegenstück im Antiklerikalismus gehören zu dieser Konkursmasse des alten Reiches.
Die Leerstelle, die der „alte Kaiser“ mit seinem Tod hinterließ, beförderte in der Republik Österreich und in den Nachfolgestaaten einen latenten Hang zum starken Mann, zum weisen Regenten. In diesem Habitus wandelten unabhängig von der politischen Binnenstruktur Thomá(s) G. Masaryk, Józef Pilsudski, Miklós Horthy, nach diesem Muster traten die „Landesfürsten“ und Heimwehrführer auf, während das autoritäre Österreich dieses Bild zunächst mit Ignaz Seipel und dann mit dem Märtyrerkult um Engelbert Dollfuß überschrieb. Im „Roten Wien“ übernahm diese Rolle durchaus herrenhaft Bürgermeister Karl Seitz.
Gleichzeitig mit dem Habsburger-Gesetz wurde mit nahezu Einstimmigkeit im Nationalrat am 3. April 1919 auch in das Namensrecht des österreichischen Adels eingegriffen, um so auf dieser Ebene den republikanischen Neubeginn sichtbar zu machen.
Unabhängig vom konkreten Anlassfall, Kaiser Karl hatte unmittelbar vor Verlassen Österreichs seine Verzichtserklärung widerrufen, kann dies auch als Aspekt jener politischen Selbstdarstellung, die die Republik als Neugründung und nicht als staatsrechtlichen Nachfolger des untergegangenen Reiches sah, gelesen werden. Zum Erbe der Monarchie zählte die Moderne, ihre Intellektuellen und Künstler. Hervorgegangen aus dem kreativen Milieu, das durch die Modernisierung des Staates und seiner Gesellschaft im 19. Jahrhundert sichtbar wurde, verfügte der neue Staat über ein markantes Potenzial an Humanressourcen, die der allgemein zu beobachtenden Provinzialisierung entgegenwirken konnten.
Davon profitierten nahezu alle Zweige der Wissenschaften, des künstlerischen Schaffens und des intellektuellen Diskurses.
Während man durch die Übernahme des Hoftheaters und der Hofoper – sie wurden zum Burgtheater und zur Staatsoper, die Aufsicht wechselte vom Obersthofmeisteramt zur Staatsregierung – spezifische kaiserliche Traditionen mit großem Erfolg weiterführte, reduzierte der ökonomische Druck die Attraktivität Wiens und Österreichs für den Wissenschaftsbetrieb. Dazu kam, dass bereits vor 1914 Berlin zunehmend als nach Westen hin orientierter Melting Pot attraktiver geworden war. Trotz der katastrophalen budgetären Situation, die sich lediglich zwischen 1924/25 und 1929/30 besserte, und der ausbleibenden Modernisierung blieb ein beachtliches Potenzial im Bereich der Wissenschaft als Erbe der Doppelmonarchie erhalten.
Dieses Potenzial und auch jenes in außeruniversitären Wissenschaftszirkeln unterlag einem schleichenden Ausbluten, das sich durch politisch bedingte Säuberungen nach dem Februar 1934 verstärkte, wiewohl man nun auch eine Reihe von Rückkehrern aus dem nationalsozialistisch gewordenen Deutschen Reich aufnehmen konnte. Mit dem „Anschluss“ 1938 wurde weitgehend und nahezu endgültig das kreative Milieu durch „Säuberung“, Vertreibung und Mord zerstört.
Während die Museen unmittelbar nach Ausrufung der Republik unter den Schutz des neuen Staates gestellt wurden und damit der Öffentlichkeit zugänglich blieben, war der Weg der Hofreitschule unter Beibehaltung der alten Uniformen in ein republikanisches Ambiente mühseliger. Der letzte Erste Stallmeister der Hofreitschule wechselte in den Dienst des Landwirtschaftsministeriums, das die Oberaufsicht über Reitschule und die damit verbundene Lipizzaner-Zucht 1919 übernahm. Der Name „Spanische Hofreitschule“ und die ins frühe 19. Jahrhundert zurückreichende Paradeadjustierung der Bereiter und seit wenigen Jahren auch Bereiterinnen blieben unverändert. Mit der nationalsozialistischen Herrschaft und deren damnatio memoriae die Habsburger betreffend wurde aus der Spanischen Hofreitschule eine Spanische Reitschule, die nach 1945 schrittweise wieder zur Hofreitschule mutierte.
Als sichtbares Erbe der Monarchie müssen auch jene architektonisch markanten Bauwerke genannt werden, die aristokratischer und großbürgerlicher Repräsentation dienten. Gleichermaßen gilt dies für den seriellen Bau der Gründerzeit mit ihren Mietskasernen und die markante Aufbruchsstimmung der neuen Architektur vor dem Ersten Weltkrieg. Sie verdanken ihr Entstehen den sozioökonomischen Rahmenbedingungen der Monarchie. Die Zerstörung dieser Rahmenbedingungen durch den Ersten Weltkrieg ließ eine vergleichbare Intensität des Bauwesens in der Folgezeit auf privater Ebene nicht mehr zu.
An den Rändern der Gründerzeitviertel in Wien und in den Bundesländern bleibt diese Zäsur vielfach sichtbar. Der soziale Wohnbau gerade der 1920er-Jahre hat eine markante Gegenarchitektur geschaffen, die jedoch nicht diese Intensität erreichen konnte. Sichtbar bleibt die Monarchie in Österreich und in den Nachfolgestaaten in jenen Bahnhöfen und Opernhäusern, die den Zweiten Weltkrieg überstanden haben und nicht völligen Neubauten weichen mussten. Zumindest die Eisenbahnstrecke über den Semmering zwischen Niederösterreich und der Steiermark ist in die Liste des Weltkulturerbes eingetragen.
Das Erinnern an die Monarchie unterlag politischen Gesichtspunkten. Die österreichische Sozialdemokratie agierte bis in die Endphase des Weltkrieges hinein absolut staatsloyal. Mit der Ausrufung der Republik setzte jene radikale Distanzierung vom alten Österreich ein, die in konservativen Zirkeln als Denunziation des alten Österreich empfunden wurde. Mit dem Handschlag zwischen Bruno Kreisky als Bundeskanzler und Dr. Otto Habsburg als dem Präsidenten der Paneuropa-Bewegung wurde die Habsburg-Krise der frühen 1960er-Jahre zu Grabe getragen. Zum 90. Geburtstag wurde der ehemalige Thronfolger Otto von Habsburg vom Bundespräsidenten in der Hofburg empfangen.
Als er starb, nahm die politische Staatsspitze am Requiem teil und die Wiener Stadtverwaltung half in entgegenkommendster Weise bei der Ausrichtung des Trauerkonduktes vom Stephansdom zur Kapuzinergruft. Das Bundesheer stellte einen Ehrenzug der Garde und die Gardemusik. Tiroler Schützen und Vereine aus nahezu allen Regionen der ehemaligen Monarchie in nachgebauten Uniformen von k.u.k. Truppenteilen marschierten mit. Dem Sarg und der Familie folgten jene Ritter- und Damenorden, die durch das Adelsgesetz 1919 von der Auflösung bedroht waren. Die selbstbewusste Republik hatte endgültig ihr Habsburg-Trauma überwunden.
Dieter A. Binder