Die Ökonomie Deutschösterreichs war durch die Herauslösung aus dem integralen Wirtschaftszusammenhang eines Großreichs von strukturellen Schocks getroffen. Die Abtrennung der mährisch-schlesischen Reviere traf die Schwerindustrie, die nunmehr Kohle zu teuren Preisen einzuführen genötigt war. Auch die ehemals so bedeutende Textil- und Bekleidungsindustrie konnte den Verlust ihrer in den Sudetenländern gelegenen Produktionsstätten in keiner Hinsicht kompensieren, eine Vielzahl von kaufmännischen Zentralen war funktionslos im ehemaligen habsburgischen Finanz-, Organisations- und Verwaltungszentrum zurückgeblieben. Die Ernte von 1918 hatte im Vergleich zum letzten Friedensjahr 48 Prozent des Weizens, 43 Prozent des Roggens und 39 Prozent an Kartoffeln erbracht, das entsprach einem Viertel des aktuellen Mehl- und einem Fünftel des Kartoffelbedarfs.
An Fleisch konnte der neu entstehende Staat gerade einmal ein Drittel, an Speisefett ein Zwanzigstel, an Zucker ein Vierzehntel des zum Überleben Notwendigen aufbringen. Auch die Kohlennot begann ihre entsetzlichen Wirkungen zu entfalten. Bei einem monatlichen Kohlebedarf von 1.150.000 Tonnen konnten aus eigener Kraft maximal 155.000 Tonnen zumeist minderwertiger Kohle gefördert werden. Hausbrandkohle wurde überhaupt nicht mehr ausgegeben – in Wien zogen die frierenden und hungernden Menschen in die umgebenden Wälder und schlugen ganze Waldparzellen ab. Und über allem wütete die Spanische Grippe, mit besonderer Unerbittlichkeit im letzten Quartal des Jahres 1918. Ihr erlagen Abertausende, die, ausgezehrt, erschöpft, von Hunger und Entbehrung geschwächt, von unzureichender Kleidung nicht geschützt, der Krankheit keinen Widerstand entgegenzusetzen vermochten.
Die Geburt des Neuen erfolgte in einer Atmosphäre des Hungers, der Kälte, der Krankheit, des Todes. In einem besonders dramatischen Ausmaß ist die ehemals so glänzende und boomende Reichshauptstadt betroffen. Wien war das Zentrum der Mobilisierung und der habsburgischen Kriegsanstrengungen gewesen, Massen von Arbeitskräften in nie gekanntem Ausmaß waren zusammengezogen, der gesamte Produktionsapparat auf die Bedürfnisse des Krieges umgestellt worden. Nunmehr wurde die Stadt in ihren wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Grundlagen nachhaltig erschüttert, was den gänzlichen Zusammenbruch der Wirtschaft, den Verlust der Metropolenfunktion, drückende Wohnungsnot, unsägliches soziales Elend und die Abwanderung von mehr als 300.000 Menschen bedeutete. Das ist die Degradierung der Reichshaupt- und Residenzstadt eines 50-Millionen-Imperiums zum Wasserkopf eines verarmten Kleinstaates.
Auch die Finanzen waren zusammengebrochen, eine von der Notenpresse angeheizte Inflation zersetzte alte, eingesessene Kapitalien und stürzte das traditionsreiche städtische Bürgertum ebenso wie den neuen Mittelstand in tiefe Verelendung. Nun hatte die Inflation durchaus ambivalente Wirkungen, verringerte sich doch die Inlandsschuldenlast gleichsam automatisch, um schließlich zur Gänze „selbstlaufend“ getilgt zu werden. Während also die traditionellen städtischen Oberschichten weitgehend verarmten, setzte der Prozess der Geldentwertung Warenaustausch und Warenproduktion wieder in Gang – im Sommer 1919 setzte an der Börse der große Spekulationsboom ein. Die Kurse der Börsenpapiere stiegen rasant, immer breitere Schichten spekulierten an der Börse, die Spekulationsgewinne wurden in einen ungehemmten Luxuskonsum umgesetzt.
Die Börse spekulierte auf das kontinuierliche Sinken der Krone, deren Kurs ins Bodenlose fiel und dem Niedergang ihrer Kaufkraft vorauseilte. Die Diskrepanz zwischen Kurs und Kaufkraft der Krone drückte sich in den tief unter den Weltmarktpreisen liegenden Inlandspreisen österreichischer Waren aus, der Exportspekulation waren Tür und Tor geöffnet. Jeder, der mit ausländischem Geld Waren ankaufte, konnte – mithilfe einer um ihre materielle Existenz kämpfenden und daher korruptionsanfälligen Bürokratie – außergewöhnliche Export- und Surplus-Profite realisieren. Die Zeit des großen Ausverkaufs hatte begonnen, ein skrupelloses Schiebertum hatte „Schmuck und Hausrat“ des in der Inflation schwer in Mitleidenschaft gezogenen städtischen Mittelstands auf ausländischen Märkten zu höchsten Profitraten umgesetzt.
Seine Personifikation fand dieser in seiner Archaik an den Prozess ursprünglicher Akkumulation gemahnende Raubkapitalismus vor allem in den beiden „Königen der Inflation“, Camillo Castiglioni und Siegmund Bosel – beides Männer, deren Genie, wie Karl Kraus befand, darin bestand, stets reicher zu sein, als man noch vor einer Stunde geglaubt habe. Castiglioni, Sohn einer Triester Rabbiner-Familie, hatte es bis 1924 auf Mehrheitsbeteiligungen bei 34 Industrieunternehmungen und bestimmenden Einfluss bei acht großen österreichischen Bankhäusern gebracht. Darüber hinaus war er einer der ersten, der das symbolische Kapital der Printmedien zu nutzen wusste; er kontrollierte fünf große Zeitungen. Bosel war in der Währungsspekulation gegen die Krone groß geworden und ein Devisen-, Valuten- und Effektenspekulant „in Reinkultur“. Beide hatten, aus dem Nichts kommend, in ihren Dreißigern einen kometenhaften Aufstieg genommen, beide waren über ein differenziertes Beziehungsgeflecht in das Netzwerk (rechter) österreichischer Politik eingebunden, beide gefielen sich im Gestus des Kunst- und Kulturmäzenatentums. Aber beide scheiterten schließlich in ihrem ureigenen Metier – in der Kursspekulation gegen den französischen Franc.
Sosehr die Periode der Nachkriegsspekulation auch die „Metaphysik der Haifische“ (Karl Kraus) befördert hatte, so hat sie doch zugleich den Handelsplatz Wien wiederhergestellt. Wien erlangte schrittweise seine alte Handelsfunktion der Vermittlung zwischen den Industriegebieten der Sudetenländer und den agrarischen Gebieten des Donauraumes zurück, seine Großbanken zählten bald zu den bedeutendsten des Kontinents. Die Inflation war zunächst das unvermeidliche Resultat des Zerfalls des großen, traditionellen Wirtschaftsraumes gewesen. Binnen eines Jahres verlor die Krone neun Zehntel ihres Wertes.
Das explodierende Defizit wurde durch permanente Vermehrung und Ausgabe von Papiergeld zu bekämpfen versucht; die Geldentwertung schlug in Hyperinflation um. Wenn die Inflation auch die materielle Existenzgrundlage des Mittelstandes vernichtete, so schuf sie andererseits die Grundlagen für eine Aufnahme der Nachkriegsproduktion und ein Wiedererstehen von Industrie und Gewerbe. Daneben entstanden aus Valutaspekulation und „Kriegsgewinnlertum“ neue, große Vermögen. Vor allem osteuropäische Spekulanten stellten ein starkes Kontingent in der mit skrupellosen Methoden arbeitenden Geldentwertungskonjunktur. Otto Bauer – Außenminister und Theoretiker des Austromarxismus – spricht von „landfremden Elementen, deren „kulturloser Luxus“ maßlose Erbitterung nach sich zog. Eine Welle von Antisemitismus habe sich so über das Land ergossen – Vorschein auf jene im Schatten des kollektiven europäischen Traumas freigesetzten und mit den gesellschaftlichen Verwerfungen der Großen Depression der frühen Dreißigerjahre zum Durchbruch gelangenden Entwicklungen in Richtung einer Etablierung autokratischer Führergesellschaften. Vorschein auch auf Genozid und erneuten globalen Vernichtungskrieg.
Wolfgang Maderthaner