Österreich war zum Kleinstaat geworden, demokratische Politik war Neuland. Wirtschaftlich hätte dieses Land stark sein können, vereinte es doch Hauptzentren der Produktion, unter anderem für Eisen und Stahl, Lokomotiven, Autos und Papier, aus der Monarchie auf seinem Staatsgebiet und konnte sich auch mehr als ausreichend mit den notwendigen Rohstoffen versorgen. Doch die von den nun ebenfalls selbstständigen Nachbarstaaten errichteten Zollschranken entzogen der Industrie die Absatzmärkte.
Der pessimistischen Tendenz zum Trotz machten am 16. Februar 1919 immerhin 84,4 Prozent der Wahlberechtigten von ihrem freien demokratischen Stimmrecht Gebrauch. Erstmals auch die Frauen. Nach jahrzehntelangem Kampf war ihnen am 12. November 1918 das Recht auf aktives und passives Wahlrecht zugestanden worden – lange bevor Großbritannien, Frankreich, Italien oder die Schweiz so weit waren. Als stimmenstärkste Partei ging die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) mit 72 Mandaten (40,8 Prozent) aus dieser Wahl hervor, gefolgt von den Christlichsozialen mit 69 Mandaten (35,9 Prozent) und dem deutschnationalen Lager mit 27 Mandaten (20,8 Prozent). Insgesamt schafften 19 Listen den Einzug in die Konstituierende Nationalversammlung.
Politisch geprägt war diese erste Phase der jungen Republik von der sehr produktiven Arbeit insgesamt dreier Koalitionsregierungen unter der Führung der SDAP – zuerst als Regierung aus allen drei großen politischen Lagern. Nach den Wahlen von 1919 wurde die Regierung zwei Mal gemeinsam mit den Christlichsozialen gebildet. Mit starkem sozialen Engagement gelang es innerhalb kurzer Zeit, Meilensteine auf dem Weg zum modernen Sozialstaat zu setzen. Große Errungenschaften waren unter anderen: der kollektivvertraglich garantierte Mindestlohn, die Einführung der Arbeitslosenversicherung, der Acht-Stunden-Tag, die Regelung für die Beschäftigung von jugendlichen Arbeitern und Arbeiterinnen, die Schaffung eines Betriebsrätegesetzes, die Gründung der Arbeiterkammern sowie die Durchführung einer Schul- und einer Heeresreform. Die Zusammenarbeit dauerte bis zum Frühjahr 1920. Ab diesem Zeitpunkt nahmen die Gegensätze zwischen dem bürgerlichen und dem sozialdemokratischen Lager zu, was sich durch die gesamte Zwischenkriegszeit zog.
Die Sozialdemokraten waren die Ersten, die mit einem klaren Programm aufgetreten sind. Erklärte Ziele waren die Beseitigung sozialer Ungerechtigkeiten, die Schaffung einer parlamentarischen Republik auf demokratischer Basis und der Anschluss an Deutschland. Diesem klaren Bekenntnis zur parlamentarischen Demokratie stand in der Programmatik eine demokratisch legitimierte Überwindung des kapitalistischen Systems samt Errichtung einer proletarischen Herrschaft gegenüber.
Im Linzer Programm aus dem Jahr 1926 wurden ungleiche Besitzverhältnisse und fehlender Zugang zu höherer Bildung für die werktätigen Massen angeprangert. Die Beschränkung des Einflusses der katholischen Kirche war darüber hinaus ein Programmpunkt der SDAP. Die im Programm ebenfalls verankerte Forderung nach einem Anschluss Österreichs an Deutschland wurde nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933 gestrichen.
Ab 1890 entwickelte sich aus vorwiegend bürgerlich-katholischen Gruppierungen schrittweise eine christlichsoziale Bewegung. Ihr schlossen sich zu Beginn Handwerker, kleine Gewerbetreibende, niederer Klerus und kleine bis mittlere Beamte an, später dann die besitzende Schicht der „Hausherren“ und Mitglieder der Industrie- und Bankkreise. Weltanschaulich war zumindest in Wien auch Platz für gemäßigte deutschliberale Kräfte, solange sie loyal zur Monarchie agierten. Mit dem Ausgreifen der Christlichsozialen in den ländlichen Bereich kamen auch Bauern dazu. Soziale Reformpläne entwickelten sich schon während der Monarchie basierend auf ethisch-religiösen Ideen. Man war schwarz-gelb. Ab dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs standen die Christlichsozialen voll hinter dem Kriegsbündnis mit Deutschland. Die Entscheidung für die Republik wurde für die Christlichsozialen zur Zerreißprobe. Doch stellte sich die Mehrheit der Partei im November 1918 auf den Boden der neuen politischen Realität. Unmittelbar nach Kriegsende entwickelte die Christlichsoziale Partei ein bemerkenswert weit nach links gehendes sozialpolitisches Profil. Obwohl die Regierungszusammenarbeit mit der Sozialdemokratie nur kurz gedauert hat, ist es gelungen, soziale Erfolge für die Menschen zu erringen, die in ihren Grundlagen in Österreich heute noch gültig sind.
Ein Hauptpunkt der Politik der Christlichsozialen war ab 1920 der Erhalt der privilegierten Stellung der Kirche. Dabei standen die Kongrua (Bezahlung der Priester durch den Staat), die Ehe und das Schulwesen im Mittelpunkt. Gleichzeitig wurde die Förderung der Landwirtschaft und des gewerblichen Mittelstandes nicht aus den Augen gelassen. Als 1922 der Staatsbankrott drohte, erzielte die von den Christlichsozialen geführte Regierung einen für Österreich lebensrettenden Erfolg, wenngleich unter drückenden Auflagen und dem neuerlichen Verzicht auf den Anschluss. Mit der Völkerbundhilfe gelang es, die junge Republik für eine gewisse Zeit zu stabilisieren.
Von den Sozialdemokraten und Christlichsozialen wurden die Deutschnationalen lange unterschätzt. Vielleicht auch deshalb, weil sie in der ersten schwierigen Phase der Gründung der Republik und während der Friedensverhandlungen gar kein Interesse an einer Mitsprache in der Regierung zeigten. Im klein gewordenen Land gab es auch kaum noch nationale Reibungsflächen, die Gruppierung selbst war inhomogen und organisatorisch zersplittert. Das deutschnationale Lager entwickelte sich jedoch zunehmend zu einer entscheidenden politischen Kraft. Ganz besonders nach dem Zusammenrücken von 17 verschiedenen Parteien und Gruppen, aus denen die Großdeutsche Volkspartei und der Landbund als die parlamentarisch bedeutsamsten Fraktionen herausragten, waren die Deutschnationalen ab den 1920er-Jahren mehrfach Regierungspartner der Christlichsozialen.
Ideologisch geprägt war man von der Idee eines zumindest künftigen Zusammenschlusses mit dem Deutschen Reich und vom völkischen Gedanken. Vor allem die nationalliberale, antiklerikale bürgerliche Mittelschicht, die nach dem Zerfall der Monarchie durch den Verlust von Einfluss und Wohlstand an den gesellschaftlichen Rand gedrängt war, fand hier rasch ihren politischen Anker. Auch weite Teile der Beamtenschaft standen den Deutschnationalen näher als anderen Parteien. Später kamen Aristokraten, Großgrundbesitzer und Industrielle dazu. Das Verhältnis zur Heimwehrbewegung war ambivalent. Als bürgerliche Wehrformation geschätzt, entwickelte sich ab dem Erscheinen der Heimwehr auf der parlamentarischen Bühne mehr und mehr eine Feindschaft. Mit dem Erscheinen der Nationalsozialisten erwuchs den Deutschnationalen ein politischer Mitbewerber, an den sie zunehmend Stimmen verloren.
Zu Kriegsbeginn hatten sich die Sozialdemokraten hinter das Herrscherhaus gestellt. Doch bei Weitem nicht alle waren bereit, den Krieg zu unterstützen. So entstanden noch in der Monarchie Splittergruppen, aus denen sich nach Kriegsende eine der ersten kommunistischen Parteien außerhalb Russlands bildete. Anfangs war der Zuspruch zu den Kommunisten durch bisherige und neue unterprivilegierte Schichten und vor allem durch radikalisierte Arbeiter relativ groß. Eine Rolle spielten auch Heimkehrer aus der russischen Gefangenschaft. Die Sozialdemokratie verstand es allerdings, sich in ideologischen Fragen weit links zu positionieren. Damit gelang es den Kommunisten in Österreich nicht, politisch einflussreich Fuß zu fassen.
Die Erste Republik war während ihres gesamten demokratischen Bestehens von Selbstzweifeln und politischer Unsicherheit erfüllt. Nach 640 Jahren habsburgischer Herrschaft suchte das kleine Land nach einer neuen Identität und wusste nicht, ob es sich seiner republikanischen oder seiner imperialen, seiner österreichischen oder seiner deutschen Orientierung zuwenden sollte.