Die erste österreichische Republik ist aus einer politischen und militärischen Katastrophe unvergleichbaren Ausmaßes hervorgegangen, aus dem Zusammenbruch der alten, übernationalen habsburgischen Reichsidee. 1918 ist mit dem Ende des Ersten Weltkriegs auch das Ende der drei großen europäischen Dynastien der Romanows, der Hohenzollern und der Habsburger gekommen. Die im Stahlgewitter des ersten modernen, industrialisierten, globalen Maschinenkriegs erschütterten und traumatisierten Massen gingen daran, althergebrachte Welt- und Gottesordnungen zu stürzen, Jahrhunderte währende soziale Hierarchien und Autoritäten abzuschaffen und Neues an ihre Stelle zu setzen.

Die militärische Demobilisierung sollte sich als ein zentrales Moment der politischen Revolution erweisen, und in den vier Tagen vom 28. bis 31. Oktober 1918 vollzog sich dann, mit dem Zusammenbruch der Armee, die Auflösung der Monarchie. Es waren nationale und demokratische Revolutionen, die die Nachfolgestaaten etablierten und zugleich die Massen der Arbeiterschaft und der zurückkehrenden Frontsoldaten mobilisierten. Ausgehend von der großen Manifestation des 30. Oktober in Wien kündigte sich in täglichen, stürmisch verlaufenden Soldatendemonstrationen ein radikaler Umbau des sozialen Gefüges des Staates an. Die für diesen Tag einberufene Provisorische Nationalversammlung hatte einen von Karl Renner konzipierten Beschluss über die grundlegenden Einrichtungen der Staatsgewalt gefasst: eine erste, provisorische republikanische Verfassung. Mit sofortiger Wirkung wurden die Aufhebung der Militarisierung der Betriebe, die Wiederherstellung der Pressefreiheit und die Amnestie für politische Delikte beschlossen.

Am 11. November 1918 stimmt dann der letzte Habsburger der Veröffentlichung einer in ihren zentralen Passagen von dem Sozialdemokraten Renner und dem Christlichsozialen Ignaz Seipel verfassten Verzichtserklärung zu. Zugleich beschließt der seit Ende Oktober unter dem Vorsitz des späteren Wiener Bürgermeisters Karl Seitz amtierende Staatsrat, tags darauf die Provisorische Nationalversammlung zu ihrer dritten Sitzung einzuberufen. Der einem Entwurf Renners folgende Gesetzesbeschluss des 12. November erklärt Deutschösterreich zur demokratischen Republik. Die Vorrechte der Familie Habsburg wurden aufgehoben, alle auf politischen Privilegien beruhenden Körperschaften aufgelöst. Alle Rechte des Kaisers wurden dem Staatsrat übertragen, die Wahl einer Konstituierenden Nationalversammlung und die Neuwahl der Landes- und Gemeindevertretungen aufgrund des allgemeinen und gleichen Wahlrechts aller Staatsbürger ohne Unterschied des Geschlechts angeordnet.

Schließlich bestimmte, im Sinne eines von den Sozialdemokraten im Staatsrat eingebrachten und mit überwältigender Stimmenmehrheit angenommenen Antrags, der Artikel 2 des Grundgesetzes: „Deutschösterreich ist Bestandteil der Deutschen Republik.“ Vor diesem Hintergrund entfaltet sich die österreichische Revolution als eine vornehmlich politische Revolution, als ein Prozess der De-Feudalisierung, dem Momente des sozialen Umsturzes und des spektakulären Eintritts der Massen in die Geschichte unterlegt sind – und der daraus seine weitere Dynamik gewinnt.

Als die Front sich in einem in der neueren Kriegsgeschichte unvergleichlichen Schauspiel aufzulösen begonnen hatte, die Mannschaften jedweden weiteren Gehorsam verweigerten, die Etappentruppen sich in voller Anarchie befanden, die chaotisch rückwärtsdrängenden Soldatenhaufen Depots plünderten, sich der Eisenbahnzüge bemächtigten und die Heimfahrt erzwangen – in diesem Moment waren Niederlage und Revolution unlösbar ineinander übergegangen. Aus dem Krieg gewachsen, ging der revolutionäre Umbruch weniger von den Fabriken als vielmehr von den Kasernen aus.
Selbst die Offiziere wurden in immer größerem Ausmaß von der Bewegung erfasst; sie haben in den revolutionären Unternehmungen der Umsturztage in Wien wie auch in Budapest eine hervorragende Rolle gespielt. Und wo bis vor Kurzem Rekrutierungen und Musterungen stattgefunden hatten, tagten nun die leidenschaftlichen Massenversammlungen der revolutionären Soldaten.

Von Russland-Heimkehrern geführte Trupps organisierten sich in einer Roten Garde, zogen bewaffnet durch die Stadt, beschlagnahmten Kraftwagen und Lebensmittelvorräte. Von der zukunftsgewissen Entschlossenheit des Bolschewismus und seinem aktionistischen Putschismus faszinierte Intellektuelle wie Egon Erwin Kisch oder Franz Werfel wandten sich der Roten Garde zu. Kriegsverwilderung, Hunger, Kleinkriminalität nützten die Selbstauflösung der Garnisonen. Unter die „wild erregten“ Heimkehrer, schreibt Otto Bauer in einer grandiosen Bestandsaufnahme aus dem Jahre 1923, unter die verzweifelten Arbeitslosen, unter die „von der Romantik der Revolution erfüllten Wehrmänner“ hätten sich die Invaliden des Krieges, die ihr Schicksal an der schuldigen Gesellschaftsordnung rächen wollten, ebenso gemischt wie „Intellektuelle und Literaten aller Art“ und aus Russland zurückgekehrte „Agitatoren des Bolschewismus“. Die Situation schien dramatisch, die politische in eine soziale Revolution umzuschlagen. Gleichwohl wurde die Republik nicht von „der Straße“ proklamiert.


Die soziale Unruhe, die Erregung, die elementare Bewegung, die die Massen ergriffen hatte, fand in einer gewaltigen Demonstration ihren signifikanten Ausdruck. Während am 12. November die Provisorische Nationalversammlung tagte und über Anordnung des Staatsrates zum ersten Mal die rot-weiß-rote Fahne der Republik gehisst wurde, rissen Kundgebungsteilnehmer das Weiße aus dem Fahnentuch. Kurz darauf stürzten kommunistische Soldaten in Richtung Parlamentstor und begannen mit einer ziellosen Schießerei, die zwei Menschen das Leben kostete, sonst aber weitgehend folgenlos blieb. Es ist eine instinktive, elementare, archaische Bewegung, die sich ausgehend von den Kundgebungen der unmittelbaren Umsturzzeit entwickelte; sie sollte bis in den Sommer 1919 hineinwirken. Zugleich war das soziale Elend allumfassend und hatte im Verband mit den traumatischen Erfahrungen aus dem industrialisierten Massenkrieg begonnen, zivilisatorische Hemmungen und gesellschaftliche Tabus einbrechen zu lassen.

Die Verzweiflung der Menschen wurde beim sogenannten Gründonnerstag-Putsch der Kommunisten am 18. April 1919 deutlich: Die Demonstranten hatten sich auf die gefallenen Pferde der Sicherheitswache gestürzt und aus den noch warmen Körpern der toten Tiere Fleischstücke gerissen. In dieser dramatischen Situation versuchte die sozialdemokratische Arbeiterpartei, revolutionäre Energien in eine Strategie der Durchsetzung umfassender Sozialreformen und der Wiederherstellung der Produktion zu transformieren. Es war der beachtenswerte Versuch der Etablierung einer dem Vorbild des jakobinisch-republikanischen Staates der Französischen Revolution entsprechenden und den Bedingungen moderner Industriegesellschaften angepassten sozialen Republik. Das korrespondierende Wirtschaftsmodell sah weitgehende Sozialisierungsmaßnahmen im Sinne genossenschaftlichen Eigentums an den Produktionsmitteln vor.

Kaiser Karls Rücktrittserklärung
Kaiser Karls Rücktrittserklärung © Picturedesk


Die Bestimmungen des Friedensvertrags von Saint-Germain haben derlei Konzepte obsolet werden lassen. Die Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts und die wirtschaftlichen Sanktionen zeitigten fatale Konsequenzen und haben die Rahmenbedingungen innenpolitischen Handelns dramatisch verändert. Am 17. Oktober 1919 ratifizierte die Konstituierende Nationalversammlung den Friedensvertrag. Es ist dies nicht nur der Tag des Rücktritts der ersten Koalitionsregierung; es bezeichnet dieser Tag zugleich das Ende der österreichischen Revolution.

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