Knapp 24 Prozent der Zehn- bis 18-Jährigen könnten aktuell an einer psychischen Erkrankung leiden. Knapp 36 Prozent hatten laut eigener Einschätzung schon einmal eine psychische Störung. Dies geht aus der ersten österreichweiten, epidemiologischen Studie zur Häufigkeit von psychischen Erkrankungen in dieser Altersgruppe in Österreich hervor. Sie beruhte zum größten Teil auf einer Befragung.
Die wissenschaftliche Untersuchung wurde unter der Leitung von Andreas Karwautz und Gudrun Wagner an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der MedUni Wien im AKH in Kooperation mit dem Ludwig Boltzmann Institut Health Promotion Research durchgeführt und vor wenigen Tagen in "European Child and Adolescent Psychiatry" veröffentlicht. 27 Krankheitsbilder sind – erstmals weltweit - laut DSM-5-Katalog (Diagnostic and Statistic Manual of Mental Disorders, dem Klassifikationssystem der USA) erfasst worden, dazu wurden rund 3.615 Jugendliche zwischen zehn und 18 Jahren in ganz Österreich befragt, davon fast 500 mit persönlichen Interviews, hieß es in einer Aussendung der MedUni Wien am Donnerstag. 340 Schulen in ganz Österreich haben an der Studie teilgenommen.
23,9 Prozent der Probanden zeigten Hinweise auf eine aktuell bestehende psychische Störung. 35,8 Prozent berichteten von zumindest einer solchen Episode in der Vergangenheit. Am häufigsten waren mit 15,6 Prozent Angststörungen, dann folgten neuropsychiatrische Entwicklungsstörungen mit 9,3 Prozent (z.B. ADHS-Aufmerksamkeitsstörung: 5,3 Prozent) und schließlich Depressionen mit 6,2 Prozent.
Psychische Störungen nicht seltener als bei Gesamtbevölkerung
Diese hohen Prozentsätze könnten darauf hindeuten, dass unter Heranwachsenden psychische Störungen nicht seltener als in der Gesamtbevölkerung sind. "Wir wissen aus Studien, das jeder Dritte im Laufe seines Lebens mindestens einmal an einer psychiatrischen Krankheit leidet. Jeder 15. Mensch in Europa erleidet eine Depression, jeder Siebente ist von einer Angststörung betroffen", sagte vor kurzem Christa Rados, Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (ÖGPP).
Im Detail zeigen Mädchen und Burschen unterschiedliche Störungsbilder. Während die männlichen Jugendlichen fast drei Mal so häufig an Störungen der psychischen und neuronalen Entwicklung (z.B. ADHS-Syndrom / Aufmerksamkeitsdefizits-und-Hyperaktivitätssyndrom) leiden als Mädchen und sechsmal so häufig an Verhaltensstörungen (z.B. Impulskontrolle), leiden doppelt so viele weibliche Jugendlichen an Angststörungen und sogar zehn Mal so häufig an Essstörungen als Burschen.
Ein weiteres Ergebnis der Studie: Nicht einmal die Hälfte (47,5 Prozent) jener Jugendlichen, die angaben, mindestens einmal im bisherigen Leben an einer psychischen Störung erkrankt gewesen zu sein, hatte Kontakt mit Spezialisten (z.B. einem Kinder- und Jugendpsychiater). Der Besuch beim zuständigen Facharzt hängt offenbar stark vom einzelnen Krankheitsbild ab: Rund 63 Prozent der befragten Jugendlichen mit ADHS waren beim Facharzt, bei Essstörungen waren es nur knapp 20 Prozent, noch weniger bei suizidalen Verhaltensstörungen (16,7 Prozent) und nicht-suizidalem, selbstverletzendem Verhalten (zehn Prozent).
Zu wenig Fachärzte
Die Gründe dafür liegen laut Studienautor Andreas Karwautz einerseits in der – immer noch bestehenden - Stigmatisierung der Erkrankungen und einer damit sehr hohen Hemmschwelle, sich einem Arzt anzuvertrauen. Hinzu kommt die zu niedrige Anzahl an Kinder-und Jugendpsychiatern und der dementsprechenden Einrichtungen in Österreich.
Karwautz sagte: "Derzeit gibt es in ganz Österreich 26 niedergelassene Kinder- und Jugendpsychiater mit Kassenvertrag, und 0,04 Betten (auf entsprechenden Spitalsabteilungen; Anm.) pro 1.000 Einwohner. Da das Fach als Mangelfach definiert wurde, besteht Hoffnung auf eine Vermehrung der Ausbildungsstellen, was eine Voraussetzung einer zukünftigen Vollversorgung ist." Der Experte appellierte besonders an Eltern, bei deutlichen Verhaltensänderungen des Kindes unbedingt die Hilfe eines Kinder- und Jugendpsychiaters in Anspruch zu nehmen. Die Studie wurde über die "Gemeinsamen Gesundheitsziele" aus dem Rahmen-Pharmavertrag von Pharmig und Hauptverband der Sozialversicherungsträger gefördert.