Tatort Turnunterricht: Die Erinnerungen an den Schulsport wecken in einigen Köpfen schlechte Gefühle. Denn zwischen Langbank und Mattenwagen liegt viel Potenzial für Erniedrigung verborgen. Als letzter ins Team gewählt werden, von der Sprossenwand purzeln, sich damit abfinden zu müssen, dass man eine schlechte Note kassiert. Doch hier ist es anders. Hier, das ist die Kinder- und Jugendreha in Bad Erlach.
Trainingstherapeutin Julia Berger steht mit dem Rücken zu ihren sechs Schützlingen. Weil sie will, dass alle dieselbe Chance haben, wirft sie den Ball blindlings über ihren Kopf ins Feld. Adrian (12) schnappt ihn sich. Er ist der Größte im Team. Als er auf die Kleinste, die siebenjährige Rima zieltl, mischt sich Mariam (10) gekünstelt streng ein: „Niemand darf meine Schwester abschießen, das darf nämlich nur ich“, sagt sie. Differenzen gibt’s aber nur bei der Auslegung der Spielregeln. Ansonsten haben die Kinder alle ein gemeinsames Ziel: Gewicht zu verlieren. Dass „die Zeitung“ heute da ist, macht ihnen nichts aus. Im Gegenteil. An ihrem letzten Tag in der Reha wollen sie über ihre Erfolge sprechen. Adrian zum Beispiel. Der Bub wollte unbedingt unter die 100-Kilo-Marke kommen: „Und das ist mir gelungen“, berichtet er.
Gesellschaft stempelt Übergewichtige als faul ab
Aber die Reha in Bad Erlach auf Äußerlichkeiten zu begrenzen, greift zu kurz. Jutta Falger, die ärztliche Direktorin, weiß, dass Kinder und Jugendliche mit Adipositas mit viel mehr zu kämpfen haben, als „bloß“ zusätzliche Kilos. Bei ihr muss niemand sein Essen abwiegen oder sich von Trainern anbrüllen lassen. Ihr geht es um den psychosozialen Bereich, das heißt: „Junge Menschen, die keine Peer-Group finden, der sie sich anschließen können, keine Partnerschaften, obwohl das Bedürfnis in der Jugend da ist, in der Schule oder im Lehrberuf ausgeschlossen zu werden – und somit als Erwachsene vor dem Problem stehen, nicht in die Erwerbstätigkeit hineinzukommen.“ Weil ihnen die Gesellschaft Faulheit als Charakterschwäche attestiert und ihnen damit jegliche Teilhabe verunmöglicht.
Adipositas, sagt Jutta Falger, ist eine Epidemie des 21. Jahrhunderts. Knapp jedes dritte Volksschulkind in Europa hat Übergewicht. In Österreich sind etwa 250.000 Kinder und Jugendliche von Übergewicht und 40.000 Kinder von starkem Übergewicht betroffen. Hinzu kommt: Ein Großteil der jungen Menschen bewegt sich zu wenig. Laut WHO-Studie befinden sich 71 Prozent der Buben im Energiesparmodus, bei den Mädchen ist von 85 Prozent die Rede. Eine Jugend im Ruhestand sozusagen. Doch nicht die Kinder allein bewegen sich zu wenig, sondern die Welt, in der sie leben. Die Rahmenbedingungen schaffen nämlich immer noch die Erwachsenen: „Unsere Kinder wachsen zunehmend in Umgebungen auf, die es sehr schwer für sie machen, sich gut zu ernähren und aktiv zu sein. Das ist eine Grundursache der Fettleibigkeits-Epidemie“, meint WHO-Regionaldirektor Hans Kluge.
Jutta Falger sieht das ähnlich. In den letzten 50 Jahren hätten sich politische, wirtschaftliche und soziale Veränderung ergeben, „die unsere Umwelt adipogen“ machen, also Adipositas begünstigen. „Das gemeinschaftliche Kochen fällt weg, alle sind berufstätig, die Zeit fehlt, man greift zu Fertigprodukten“, sagt Falger. Hinzu kommt: Grünflächen fehlen, keiner geht mehr zu Fuß, gelernt wird vor dem Bildschirm. Und der Algorithmus spült den Kindern die maßgeschneiderte Werbung für Zuckerwasser aufs Handy. Falger hält somit fest, dass „die Entstehung der Adipositas nicht nur in der Verantwortung des Individuums liegt, sondern eine gesamtgesellschaftliche ist“. Es gebe viele Schrauben, an denen man drehen könne: Eine Zuckersteuer, ein Werbeverbot für Junk Food, eine tägliche Turnstunde und niedergelassene Ärztinnen und Ärzte, die sich mit Adipositas auskennen und einen nicht bloß mit einem „Nimm halt einfach ab“ abspeisen.
Was die Kinder in der Reha lernen
Bis dahin müssen sich die Kinder und Jugendlichen selbst helfen. Rund 100 Patientinnen und Patienten kann Falgers Team in der Reha pro Jahr aufnehmen, der Bedarf wäre wesentlich höher. Die, die einen Platz bekommen haben, reisen oft gemeinsam mit einem Elternteil an. In den fünf Wochen, die sie in der Reha verbringen, stehen zum Beispiel Sportstunden oder Einzeltherapie am Programm. Und die Kinder lernen, was auf den Teller kommen sollte: „Ballaststoffe, Kohlenhydrate, ein bisschen Fette, das ist die eine Hälfte. Und die andere Hälfte sind Obst und Gemüse”, zählt Matthias (10) an seinen Fingern ab. Er will noch etwas abnehmen, sagt er, und dann sein Gewicht halten. „Ich wach’s ja auch noch ein bisschen.“ Der achtjährige Oliver und der zehnjährige Johannes sind in den fünf Wochen Freunde geworden. „Ich würd die Reha empfehlen“, sagt Johannes. An seinem vorletzten Tag hat er einen Brief von seinen Mitschülerinnen und Mitschülern bekommen, in dem steht, dass sie ihn vermissen. Oliver, der auf dem Bauernhof seiner Eltern gern einmal beim Hühnerstall ausmisten hilft, ist überzeugt, dass er das, was er in Bad Erlach gelernt hat, daheim weiter umsetzen kann.
Was sich die Kinder wünschen? „Dass die Leute nicht schimpfen und nett sind“, sagt Mariam. Sie und ihre Schwester Rima haben in der Reha-Zeit aufeinander aufgepasst. Dem 12-jährigen Adrian ist wichtig: „Dass die Eltern öfter mit ihren Kindern etwas unternehmen. Das ist natürlich schwer, wenn die Eltern sehr viel zu tun haben, aber wenn mal Zeit frei wird, nicht vorm Handy sitzen oder vorm Fernseher sondern spazieren.“ Und Matthias will allen Kindern, die mit ihrem Gewicht kämpfen, noch etwas mitgeben: „Man soll an sich selber glauben. Wenn man nicht an sich selber glaub, kann man nichts schaffen, nichts.“
Bevor die Kinder die Heimreise antreten, werden sie beim „Schmetterlingsfest“ mit Musik und einem kleinen Papier-Schmetterling als Andenken verabschiedet. Was der ärztlichen Direktorin Jutta Falger besonders viel bedeutet: Wenn die Kinder dann mit erhobenem Haupt aus der Reha marschieren. Wenn sie sagen: „Ich bin viel mutiger und selbstbewusster geworden.“ Und auch wenn sich blöde Kommentare nicht verhindern lassen. „Ich weiß jetzt, wie ich damit umgehe.“