Vor mehr als zehn Jahren kurvte ich am Vorabend zum 1. Mai-Aufmarsch mit dem Rad durch die Wiener Innenstadt. Dabei kam ich am Rathausplatz vorbei, wo am nächsten Tag die große Kundgebung stattfinden sollte. Dabei fiel mir beim Herumradeln auf dem menschenleeren Platz ein mit Plakaten und Slogans versehener Bretterverschlag auf, der links und rechts von der großen Bühne, von der die Granden der Partei die sternförmig aus allen Bezirken einziehenden Genossinnen und Genossen am nächsten Tag zujubeln sollten, weit in den Platz hineinreicht. Die Absicht war evident: Der Ort der Kundgebung sollte künstlich verkleinert werden, damit sich die Teilnehmer auf dem weitläufigen Platz vor dem Rathaus nicht verlieren. Wann immer ich in den letzten zehn Jahren über die Maikundgebung berichtet habe, habe ich auf diese Besonderheit verwiesen.

Der traditionelle Aufmarsch am 1. Mai ist das Hochamt der Sozialdemokratie - mit dem Rathausplatz als idealen Ort für die Machtdemonstration der stolzen, selbstbewussten, einst staatstragenden Bewegung. Das Problem, das in den letzten Jahren zu beobachten war: Im Rathaus bemüht man permanent die Segnungen des roten Wien. Tatsächlich stellt die SPÖ seit 1919 - ausgenommen die Jahre 1934 bis 1945 - den Bürgermeister. Die Erosion der großen Institutionen des Landes macht allerdings auch vor der Wiener SPÖ nicht halt. 

Sichtbar wird dies am 1. Mai. Ich wohne in der Leopoldstadt, also im zweiten Bezirk, und der Zufall will es, dass jedes Jahr die Abordnung des zweiten Bezirks durch meine Straße marschiert. Ich wundere mich schon seit Jahren beim Blick aus dem geöffneten Schlafzimmer, wie wenige Genossinnen und Genossen jährlich unterwegs sind. Sind es 500? Bei optimistischer Schätzung hätte ich auf 800 getippt. Und das in einem tiefroten Bezirk, in dem mehr als 100.000 Menschen leben. Ist das rote Wien ein Potemkinsches Dorf?

Jahr für Jahr behauptet die Wiener SPÖ, am 1. Mai wären 100.000 Menschen auf der Straße, ohne den Beweis anzutreten. 2019  kam es zum Eklat, der Innenminister hieß damals Herbert Kickl. In einer nicht ganz fairen und feinen Aktion wurden Fotos des Polizeihubschraubers vom halbleere Rathausplatz an die Öffentlichkeit gespielt. Beigefügt war die polizeiliche Analyse der Luftaufnahmen, wonach die Wiener SPÖ maximal 12.000 Leute mobilisiert hat. Die schwer verärgerte SPÖ rächte sich mit einer Anfragebeantwortung über die Umstände, die Kosten und die Besatzung des Flugs.