In den kargen Jahren des Wohlstandsaufbaus schickte die Mutter, die die Frühstückspension im Einzelmanagement schupfte, die Buben in der Früh zum Einkaufen, zum Semmel- und BILD-Zeitung-Holen. Manchmal gab es auch Wurst. Sie wurde in der exakten, meist einstelligen Zahl von Scheiben („sechs Blatt Extra“) auf den Zettel geschrieben, nie mit der großzügigeren, ungenaueren Angabe des Gewichts. Man bestellte, was man benötigte. Effizienz der frühen Siebziger. Blieb wider Erwarten das eine oder andere Blatt auf dem Teller der Gäste, die man „die Fremden“ nannte, übrig, fiel es für die Kinder ab. In der Erinnerung waren das kleine Freudenmomente.

Vorgestern bei einer Benefizveranstaltung den Manager einer heimischen Lebensmittelkette getroffen. Small Talk über das geänderte Konsumverhalten in den Filialen. Es sei zum Greifen. Man spüre es an den Umsätzen, beim Blick in die Einkaufswagen und am Wurststand. Am Wurststand? „Ja, die Leute geben neuerdings die gewünschte Menge nicht mehr als Gewicht an, sie ordern eine bestimmte Zahl von Blättern, immer öfter eine einstellige.“ Es sei wie früher, in Zeiten des Spardrucks. Ja, nur ohne die kleinen Freudenmomente, ergänzte ich aus dem Erinnerungsschatz. Wie das wohl sein werde, von oben plötzlich runterklettern und nicht mehr von unten rauf, fragte ich den Manager. Er wisse es auch nicht, spüre ein Unbehagen und fürchte, dass es auch hierzulande wie in Frankreich bald gelbe Westen auf den Straßen geben könnte, angetrieben vom Wohlstandseinbruch und von Demagogen, die Kirtag haben würden.

Die Regierung ist gefordert. Wie alles sei auch guter Rat derzeit teuer, um den Menschen ihre aufkeimenden Existenzängste zu nehmen, schreibt mein Kollege Ernst Sittinger im heutigen Leitartikel. Die Maßnahmen, die vermutlich an diesem Wochenende unter hohem Erwartungsdruck präsentiert werden: ein heikler Spagat. Sie sollen keine falschen Anreize setzen, systemische Altlasten beseitigen (Kalte Progression), chirurgisch genau sein, gleichzeitig in der Differenzierung administrierbar bleiben und ganz nebenbei den Klima-Umbau nicht aus dem Blickfeld verlieren. Wie hinter den Kulissen der schwarz-grünen Koalition um das Paket gerungen wird, leuchten wir in unserer politischen Aufmachergeschichte aus. Titel: „Das Teuerste beider Welten“. Auf der Titelseite gehen wir ein kompositorisches Wagnis ein und bündeln beide Reifeprüfungen, die der Koalition und die des Nationalteams, das am Abend den Weltmeister empfängt.

Der Gesprächspartner von der Lebensmittelkette setzt seine Hoffnungen übrigens auf beide, und er baut in der Krise auf die Verhaltenspsychologie, was die Spezies Mann angeht. Der sei nämlich in seinem Kaufverhalten eindeutig weniger preisbewusst und selbstkontrolliert als die Kundinnen. Bei seinen Streifzügen durch die Regale sei da kulturgeschichtlich noch immer der alte Jäger und Sammler sichtbar. Der Mann kaufe mit dem Auge und dem Faktor Gier, er lasse kräftiger aufschneiden und bestelle am Wurststand selten in Blättern.

Da können sich aber, erwiderte ich, die Männer bei den Frauen eine Scheibe abschneiden.

Bis heute Abend im Stadion.