Mit seiner Ankündigung, auf Kanzlerkandidatur und Parteivorsitz zu verzichten und Martin Schulz den Vortritt zu lassen, hat SPD-Chef Sigmar Gabriel Freund wie Feind überrascht. Gab er sich zuletzt doch ungewohnt kämpferisch. Und hatten führende Sozialdemokraten sein Antreten dezidiert befürwortet.
Vielen anderen Politikern hätte das zur Selbstvergewisserung gereicht. Nicht aber Gabriel. Vor Monaten schon hätte der SPD-Chef alles klarmachen können. Stattdessen hielt er seine verunsicherte Partei hin. Von der Furcht getrieben, er könnte die traditionsreiche deutsche Sozialdemokratie in ein weiteres Wahldebakel führen, konnte er sich nicht entschließen. Und hat durch sein quälend langes Zaudern erst recht die Zweifel an seiner Befähigung für das wichtigste politische Amt im Staat genährt.
Wie soll einer, der sich nicht einmal dazu durchringen kann, seine Gesinnungsgemeinschaft in einer so aufgeheizten Atmosphäre in die wichtigste Wahlauseinandersetzung seit Langem zu führen, als Kanzler Entscheidungen von viel größerer Tragweite fällen? Diese Frage drängte sich mit jedem Tag, den der Vizekanzler und SPD-Chef untätig verstreichen ließ, immer mehr Deutschen, Genossen wie Nichtgenossen, auf.
Jetzt hat Gabriel selber den gordischen Knoten durchschlagen. Seine von einem konstanten Umfragetief gespeisten Selbstzweifel waren letztlich größer als seine Ambitionen, stärker als sein Zug zur Macht. Einzuräumen, dass er nicht der Richtige ist, muss dem SPD-Chef nicht leicht gefallen sein. Es lässt ihn in einem sympathischen, menschlichen Licht erscheinen und verdient Respekt. Vor allem aber unterscheidet es Gabriel von Martin Schulz.
Der frühere EU-Parlamentspräsident war noch nie von Minderwertigkeitsgefühlen geplagt. Und er hat von Beginn an kein Geheimnis daraus gemacht, dass er Kanzlerin Angela Merkel entthronen will. Schulz glaubt an sich. Das hat er Gabriel voraus. Das kommt bei seinen Genossen gut an.
Für die deprimierte, inhaltlich und personell ausgelaugte SPD geht es längst um die nackte Existenz. Mit seiner Leidenschaft könnte Schulz ihr wieder neues Leben einhauchen. Aber macht es aus dem bisherigen Europapolitiker wirklich den besseren, macht es aus ihm den besten Kanzlerkandidaten?
Lassen wir die Kirche im Dorf! Schulz kommt zum Zug, weil er sich aufdrängte und niemand anderer wollte. Doch seine Wahl ist alles andere als risikofrei. Ihm fehlt nicht nur jede bundespolitische Erfahrung. Schon in Straßburg war er für viele eine Reizfigur, die polarisierte. Das tat der mit vollem Kalkül, wenn er wortgewaltig die Orbáns dieser Welt geißelte. Schulz stieß aber auch deshalb auf Ablehnung, weil er mit seinem großspurigen Politikstil genau das elitäre Europa verkörperte, das heute immer mehr Bürger ablehnen.
Um Merkel nahe zu rücken und die AfD auf Distanz zu halten, wird er einiges bieten müssen. Seine Person als alleinige Botschaft wird zu wenig sein.