Kennen Sie das? Sie haben, solange Sie zurückdenken können, eine feste Vorstellung von einer bestimmten Sache, die Sie noch nie gesehen haben, sei es eine Landschaft, eine Person oder was auch immer. Doch dann, irgendwann, lernen Sie diese tatsächlich von der Nähe kennen. Das Imaginierte trifft auf die Wirklichkeit, und nicht selten geht der unvermeidliche Realitätscheck zu Ungunsten der Fantasie aus.
So ist es mir mit Brabant widerfahren. Seitdem ich das erste Mal vom ehemaligen Herzstück des so genannten „Burgundischen Erbes“ der Habsburger gehört hatte, besaß der Landstrich für mich einen fast mythischen Klang, der die untergegangene Welt der Ritter und ihrer Turniere und die Pracht höfischen Lebens heraufbeschwor. Doch als es mich in meiner Zeit als Europakorrespondent dann einmal an einem verregneten Herbsttag auf der Suche nach einer Autowerkstatt in den Kümmerrest des historischen Herzogtums verschlug, eine trostlose, von tristen Klinkersteinbauten zersiedelte Landschaft südlich von Brüssel, da war meine Enttäuschung groß.
Mit Menschen verhält es sich nicht anders. Ich erspare Ihnen jetzt, von den Interviews mit ursprünglich bewunderten Persönlichkeiten zu erzählen, bei denen meine anfängliche Euphorie rasch einer von Antwort zu Antwort wachsenden Mischung aus Ernüchterung und Verdruss wich.
Lieber berichte ich Ihnen vom Schriftsteller Boris Pahor, der dieser Tage im hohen Alter von 108 Jahren in seiner Heimatstadt Triest verstorben ist. Denn Pahor war jemand, der noch bei unserer letzten Begegnung die in ihn gesetzten Erwartungen zu durchkreuzen vermochte.
Es war vor sechs Jahren. Wir standen in der Küche seines kleinen Hauses hoch über dem Golf von Triest, der an diesem sonnigen Frühlingstag in fast metaphysischem Blau leuchtete. Routiniert bereitete der Hausherr am Gasherd Espresso zu. Das Meer gebe ihm eine Ahnung von Unendlichkeit und von Freiheit, sagte Pahor. Die Freiheit, das war das Lebensthema des großen slowenischen Autors, der als junger Mann fünf nationalsozialistische Konzentrationslager überlebt hatte.
Anders als die Male davor ging es diesmal aber nicht um die Selbstbehauptung der leidgeprüften Triestiner Slowenen, sondern um so elementare Dinge wie Freundschaft, Leidenschaft und Liebe und Pahors Ehe mit Rada, mit der er 60 Jahre verheiratet gewesen war.
Mit schonungsloser Offenheit und doch voller Zärtlichkeit sprach der Dichter über die schwierige Beziehung zu seiner Frau – ein vom Alter gebeugter Unbeugsamer, zerbrechlich und zugleich von überlebensgroßer Stärke, der für wenige Augenblicke den ihm sonst eigentümlichen Zorn ablegte und sich nicht scheute, einem im Grunde Fremden radikal sein Innerstes zu öffnen.
Es ist eine meiner kostbarsten beruflichen Erinnerungen aus den Jahren vor der Pandemie, von der niemand geahnt hätte, dass sie das, was das Menschsein im Guten wie im Schlechten ausmacht, noch einmal auf so unheimliche Weise verdichten würde. Viele von uns wuchsen am Höhepunkt der Seuche völlig unvermutet über sich hinaus, andere dagegen entpuppten sich ebenso überraschend als winzig klein.
Die Coronamaske hat uns bis zur Kenntlichkeit verhüllt, schrieb mein Kollege Ernst Sittinger vor einer Woche in seinem Essay am Samstag mit feiner Ironie. Und Innenpolitik-Chefin Veronika Dolna erinnert in ihrem heutigen Leitartikel noch einmal daran, dass das freie Durchatmen ohne Mund-Nasenschutz uns ab sofort nicht von der Verantwortung entbindet, die der Kampf gegen das Virus uns weiterhin gegenüber der Allgemeinheit auferlegt.
Mit herzlichen Grüßen