Europa, so konnte man neulich in der Neuen Zürcher Zeitung lesen, müsse sich angesichts der russischen Aggression zu einer „Werte-Supermacht“ entwickeln. Diese Forderung wirkt einigermaßen erstaunlich, ist doch gegenwärtig zu beobachten, wie die europäischen Werte in einem atemberaubenden Tempo erodieren. Friedenssicherung durch Dialogbereitschaft, Wandel durch Handel, die moralische Diskreditierung alles Militärischen, das Aufbrechen von geschlechtsspezifischen Rollenzuschreibungen, die Freiheit der Meinung, die Toleranz gegenüber Andersdenkenden und die Segnungen der Globalisierung: All diese Konzepte und Visionen sind in kürzester Zeit verdampft. Jetzt gelten Aufrüstung und militärische Abschreckung als Gebot der Stunde, ökonomische Verflechtungen haben ihre Unschuld verloren, Frauen fliehen, während Männer wieder kämpfen und sterben, Medien, die verdächtigt werden, der Propaganda des Feindes zu dienen, werden ruckzuck verboten, Vorsicht und Nachdenklichkeit gelten als Verrat an der guten Sache, und in der Wirtschaft mutiert die verachtete Autarkie zum neuen Ideal.